Fraktale der Bewegung

Alles, was sich im Winter zurückgezogen hatte, macht sich im Frühling langsam aber sicher draußen breit.
Da sind die Bäume, die im Herbst alles aufgegeben hatten, was sie an sich abwerfen oder den Stürmen überlassen konnten, um kahl und sparsam durch die monatelange Kälte und die kurzen Tage milchigen Lichts zu kommen. Das Gras, das seine ganze Kraft darauf verwandte, nicht zu sterben, und so nicht einen Millimeter weit wuchs. Die Tiere, die sich allesamt in Ecken und Winkel kauerten, wo sie sich darauf verlegten, ihre plötzlich so kostbare Körperwärme und Energie zu sparen. Und du natürlich, der den Garten draußen über den Winter sich selbst überließ und sich in die Bude flüchtete, um mit den Fingern am Heizkörper hinauszublicken in eine Natur wie in ein leerstehendes Ladengeschäft zu Zeiten globaler Rezession.
Und jetzt strebst du hinaus, von der Sonne angezogen und der vielen Arbeit, die draußen zu tun ist. Der Mensch ist ein Ordnungstier und als Kind dachtest du, der Mensch grabe Regenabflüsse, stütze Büsche, ziehe Hecken, harke den Rasen und pflegte seine Beete so, wie Vögel Früchte fressen und Samen ausscheiden. Holzhacken, Regenrinne säubern, Kompost wenden, Rasen in ausgetretenen Stellen nachsähen – du expandierst nach draußen und drückst der Natur deinen Stempel auf, bevor sie außer Rand und Band aufgeblüht ist. Du leitest ihre gleichartige Expansion quasi in bestimmte Bahnen, die dem Wachstum draußen gerecht oder von ihm gesprengt werden. „Gleichartig“, denn alles draußen verhält sich ganz ähnlich: Es kommt hervor und beginnt mit frischer Kraft zu gestalten und sich unter der Sonne so auszudehnen, wie sich vor dem Winter alles zurückgezogen hatte.

Dieser sich über das ganze Kalenderjahr streckende Wechsel von Kontraktion und Expansion, von Zusammen- bzw. Zurückziehen und Ausdehnung hat seine Ähnlichkeit mit den Bewegungen eines Atemzugs oder des Meeres am Ufer. Fraktale der Bewegung, die sich genauer betrachtet wieder als aus einer Vielzahl gleicher Bewegungen zusammengesetzt erweisen; die Wiederkehr des Immergleichen aber eben nicht Immerselben. Vieles endet, aber nicht alles, und aus dem, was übrig bleibt, entsteht wieder mehr, das alsbald ebenfalls wieder zum Großteil vergeht und irgendwann wieder zunimmt. Jeder Atemzug, jeder Frühling ereignet sich in der gleichen, nicht derselben Welt: Alles ein neues Hier und Jetzt, im Großen und Kleinen.

Es wird klar, warum die Dialektik auf viele von euch einen solchen Reiz ausübt und nachgerade wie die naturgemäße Denkform anmutet. Denn sie scheint direkt der Superbewegung des Seins abgeschaut zu sein. Ihre Schritte lassen sich genauso zu einem Fraktal der Bewegung verketten. Überall lässt sie sich erspähen: Der niedergedrückte Garten wird wieder erblühen, das aufgegebene Ladenlokal irgendwann einen neuen Pächter finden, auf die Krankheit folgt mit der Gesundung neuer Schwung – und sollte dem nicht so sein, wird etwas anderes daraus. Nichts, absolut nichts bleibt lange (länger als ein Atemzug) wie es ist.
Umgekehrt erscheint jede Idee, die nicht dem Werden und Vergehen Reverenz erweist, widersinnig oder von der Hybris griechischer Tragödien geprägt: ununterbrochenes Wachstum (die Logik der Krebszelle); gleichschneller Fortschritt in Technik und Moral; Sicherheit ohne Katastrophen, Verbrechen und Unfälle; Glaube, Liebe, Hoffnung ohne Zweifel; die Verbindung von Leben und Ewigkeit hinsichtlich eines Einzelnen.

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