Die erste Bewegung

Du zerbrichst dir immer noch den Kopf über die Zeit und dass bzw. ob und wie sie sich in Bewegung zeigt. (Semantische Klarstellung: Nicht die Zeit ist in Bewegung, sie verrät (oder offenbart) sich damit.) Die Notwendigkeit dessen ist dir während des Studiums gar nicht klar gewesen; du hast keine Vorlesung dazu besucht und das auch nie als Mangel wahrgenommen.
Mit der Fundamentalontologie wird das ganz anders und das liegt an einem Sinn und einem Verdacht.
Der Sinn: In der Ontologie geht es nicht nur um das, was ist, sondern auch um das Prinzip des Seins; seit Sokrates ist es ziemlich aus der Mode gekommen, auf Prinzipien oder gar einem Prinzip zu bestehen.
Der Verdacht: Dieses gesuchte Prinzip hängt mit Raum und Zeit zusammen.

Dein Verdacht hat sich im Laufe der bisherigen Überlegungen weitergesponnen, so weit, dass er dich mehr anleiten könnte, als einer unvoreingenommenen Überlegung dienlich wäre. Der aristotelische Gedanke nicht eines ersten Bewegers am Anfang aller Kausalketten, sondern einer ersten Bewegung an ihrem Grund könnte das Ergebnis dieses Verdachts und deiner Anleitung durch das Bild des Meeres sein, in dem du die Zeit wie in nichts sonst verkörpert siehst.
Oft wird mit Belustigung auf die Vorstellung vom zyklischen Verlauf der Zeit geblickt, wie sie die antiken Griechen gepflegt haben sollen. Dem Schmunzeln liegt ein Mangel an Phantasie zugrunde, in dem ein Grinser davon ausgeht, die Welt sei vor Sokrates wie in „Und täglich grüßt das Murmeltier“ gewesen.
Der (für seine Psychohygiene vielleicht zu sehr) phantasiebegabte Griechenkundler Nietzsche hat mit seiner Ewigen Wiederkehr des Gleichen reine Mathematik gemacht: Eine endliche Materiemenge muss sich in einer unendlichen Zeitspanne zwangsläufig wieder so zusammensetzen, wie sie schon einmal zusammengesetzt war; und das passiert in der Unendlichkeit nicht nur einmal, sondern – auf Äonen betrachtet – ständig. Nietzsche kommt so mit einem linearen Zeitbegriff zu einem zyklischen Weltbild, indem er den Raum betrachtet. (Der für ihn endlich war; sollte das Universum immer expandieren, wäre es das natürlich mit der Wiederkehr. Kältetod, fertig.)
Es ist von hier aus ein Leichtes, den genauen Gegenschritt zu machen und mit einem zyklischen Zeitbegriff ein lineares Weltbild zu erhalten. Denn selbstverständlich kann die Zeit zyklisch sein; eure hierseiende Verhaftung in der Gegenwart kann sogar als Indiz dafür gelten. Nur darfst du nicht glauben, alles sei wie beim Murmeltier bei der neuen Runde genauso wie vorher: Die Zeit ist „wieder da, wo sie vorher war,“ nur hat sich im Raum inzwischen ja alles verändert. (Es kehrt schließlich das Gleiche, nicht das Selbe wieder!)
Die Neurofritzen meinen, ihr nähmet die ganze Welt in 3-Sekunden-Blöcken war. Drei Sekunden sind eure Gegenwart. Kann es denn nicht sein, dass es immer dieselben drei Sekunden sind, aus denen ihr in keine Richtung herauskommen werdet und innerhalb derer du dein Fahrrad immer nur ein paar Zentimeter voranschiebst, aber durch ständiges Erinnern an das Fahrrad der letzten Gegenwart glaubst, das Veloziped die ganze Straße entlangzuführen? Es ist ja der Bezug zwischen Daseiendem und Hierseiendem, den du gewohnheitsmäßig im Umgang herstellst und aus dem du die Kontinuität deines Körpers, deiner Person, deiner Wohnung ableitest.
Ob das Hier und Jetzt drei Sekunden dauert oder eine Stunde, immer ist es eine gewisse Zeitspanne, die sich – abgesehen vom Raum, auf den sie einwirkt (?) oder an dem sie sich zeigt – ständig wiederholt. Womöglich nicht genau, sondern wie Wellen, von denen keine der anderen gleicht, und die erst in ihrer Gesamtheit so etwas wie eine Taktung haben, die allerdings so unstet ist, dass du dabei niemals von „Rhythmus“ sprechen würdest und auch „Taktung“ unpassend findest.


Wellen laufen am Strand von Dorset an; Youtube-Video hochgeladen von rik7467.

 

Wo ist der Übergang von der einen Welle zur nächsten, von der einen Gegenwart zur nächsten? Es ist ein fortwährendes Auf und Nieder, das aus der Distanz betrachtet eine gerade Küstenlinie abgibt.
Gehe noch weiter: Es gibt ontologisch keinen Raum, da es kein Nichts geben kann. Es gibt nur eine Menge von Hierseiendem, das unterschiedlich dicht aneinandergedrängt ist. Aufs Ganze betrachtet ist das Universum ein Meer, dessen Wasser das Hiersein ist, bestimmt von einer Strömung, die ihr als Zeit anseht und die sich in Wellen und Wirbeln zeigt, die ihr als Bewegungen anseht.

Dein Verdacht und das Meer führen dich bei deinem Auftrag, auf ein Prinzip zu beharren, schließlich zum Werden und Vergehen. Alle Bewegungen laufen darauf hinaus. Werden und Vergehen ist die erste Bewegung am Grund des Hierseins.
Du hast einmal eine dicke Baumscheibe aus dem Meer gezogen. Seither dient sie dir als Unterlage, wenn du Holz sägst oder hackst, und sie dient Trauni als Ausguck. Wenn es warm und trocken ist, zieht sich das Holz zusammen und die Scheibe bekommt tiefe Risse, die sich schließen, sobald es wieder feuchter wird.

Wenn es warm und trocken ist, zieht sich das Holz zusammen und die Scheibe bekommt tiefe Risse, die sich schließen, sobald es wieder feuchter wird.
Wenn es warm und trocken ist, zieht sich das Holz zusammen und die Scheibe bekommt tiefe Risse, die sich schließen, sobald es wieder feuchter wird.

Bei Steinen ist es gerade umgekehrt: Im Sommer dehnen sie sich vor der Wärme aus, im Winter dagegen schnurren sie zusammen; wenn es dann regnet und ein Müllwagen drüberfährt, rutschen sie auseinander und die Pflasterstraße sieht aus wie umgepflügt. Der Wechsel der Jahreszeiten scheint geradezu darauf abzuzielen, alles durch Ausdehnung und Kontraktion irgendwann kleinzukriegen.
Doch nicht nur die Wellenbewegung der Jahreszeiten zielt darauf; überhaupt alle natürlichen Bewegungen: Regenwasser sickert in jeden Spalt, verdunstet in der Wärme und zieht feucht ins Gemäuer, das umso schneller zerfällt und dem nächsten Schauer einen größeren Spalt entblößt, bis ein ganzes Haus zu Sand gewaschen ist. Das gleiche Spiel bei den Bäumen, beim Laub und den Weiden. Am Strand macht eine Welle Zeichnungen in den Sand, die von der nächsten ausgelöscht werden. Tiere kommen zur Welt und töten Tiere, um davon zu leben, bis auch sie sterben oder getötet werden, damit Tiere davon leben können. Am Grunde jeder Bewegung steht die eine Superbewegung von Werden und Vergehen, die wellenförmig mit der Zeit durch das Hiersein ausstrahlt. (Wenn Mathematik die Sprache der Natur ist, so solltet ihr die Vokabeln der Sinusfunktion pauken.)
Die Natur reißt unermüdlich mit dem Arsch ein, was sie mit den Händen aufgebaut hat. Oder, um es prinzipieller zu formulieren: Alles entsteht zufällig aus den Überresten dessen, was vergangen ist. Sobald etwas entstanden ist, setzt es alles daran, sich dem Zahn der Zeit solange wie möglich zu entziehen.

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