Zeit zeigt sich in Bewegung

Um nochmal auf die nach wie vor ungeklärte Zeit zurückzukommen, musst du etwas ausholen.
Wittgenstein will, um den Dingen auf den Grund zu kommen, sich nicht mit den Erscheinungen, sondern den Möglichkeiten der Erscheinungen beschäftigen. (PU 90) Das ist recht und billig, nur ist sein Schluss, es sei von daher richtig, grammatische Betrachtungen über verschiedene Aussagen über Erscheinungen zu unternehmen, vorschnell.
In den Aussagen über Erscheinungen liegen in der Tat viele Möglichkeiten; doch es kann ja nicht reichen, dem Grund der Dinge bloß grammatisch nachzuspüren. Wittgenstein nimmt die augustinische Aussage über das Wissen um und die ihm abträgliche Frage nach der Zeit zum Anlass dafür.
Wie sehr die grammatische Methode zur Klärung der Verhältnisse beiträgt, hat Wittgenstein zu Genüge vorgeführt. Doch ist in Aussagen über Erscheinungen wirklich etwas über Möglichkeiten der Erscheinungen und ihren Grund enthalten? Gerade das Beispiel der Zeit zeigt doch, dass auch die Gesamtheit aller Aussagen über die Zeit dieselbe höchstens als Erscheinung umreißt, während umgekehrt ihre Möglichkeiten und ihr „Wesen“ von den Aussagen nicht im Mindesten abhängen.
(Anders wäre dies mit Daseiendem, das als ontologisch rein im Geistigen verortet in grammatischer Betrachtung vollständig erschließbar ist; weil Daseiendes inzwischen die Hauptsache in der Welt ist, wird Wittgensteins Methode von Minute zu Minute wichtiger.)

Die Zeit selbst jedoch ist gar nicht als Erscheinung zu betrachten. Das Jetzt kann nicht „entstehen oder vergehen und scheint doch immer ein anderes zu sein, so daß es also nicht Wesenheit ist.“ (Aristoteles, Metaphysik 1002b) Die Art und Weise, wie der Physiker Joachim Schulz nebenan die Zeit behandelt, indem er ihre Vorkommnisse in physikalischen Formeln aufzählt, die dieselbe doch voraussetzen, beweist die Aussichtslosigkeit der grammatischen Methode, die in diesen Formeln nur die Voraussetzung der Zeit findet, und die Schwierigkeit der phänomenologischen, für die Zeit so selbstverständlich ist, dass sich die Frage nach ihrem „Wesen“ nur aus Gewohnheit stellt. (Ontologisch ist bislang kein guter Grund für ein Zeitgefühl gefunden.)


Amseln im Garten laben sich am Fallobst. Auch hieran wird Zeit sichtbar – und wie wenig ihrem Wesen allein mit Kausalität beizukommen ist.

Gerade so weit bist auch du zuletzt gekommen mit dem zirkelnden Beweis, dass Umgang ohne Zeit nicht möglich wäre, Umgang aber möglich ist und es demnach auch Zeit geben muss, über die darüber hinaus weder etwas Genaues, noch etwas Handfestes oder gar Sicheres gesagt worden ist. Einigkeit besteht zwischen Philosophen und Physikern in der Sicherheit der Existenz von Zeit, die sich zuerst am Phänomen der Bewegung zeigt, genauer: daran, dass ihr Bewegung beobachten könnt. Dies bedeutet zugleich, dass sich die Zeit an einer Bewegung zeigt – oder zumindest ein Teil von ihr sich in einer Bewegung äußert, ganz gleich, um welche Veränderung der körperlichen Eigenschaften es sich handelt. Das Meer ist in dieser Hinsicht das beste allgemeine Symbol der Zeit (oder der Zeitlichkeit des Hierseins), die nicht ohne einen Stoff denkbar ist, in dessen Bewegung sie sich zeigt.
Du hast die Amseln im Garten gefilmt, um dies zu allererst zu zeigen: Bewegung als nacktes Zeichen der Zeit. Die Kamera wachelt ein wenig, was nur angemessen ist, denn nicht nur das Betrachtete ist in vielfältiger Bewegung, auch der Betrachtende. Ob du einen Stein bei Windstille betrachtest oder die Sterne, die zwar alles andere als unbeweglich sind, deren Eigenbewegung du jedoch nicht wahrnehmen kannst: In diesen Fällen bist du es, an dessen Bewegung sich die Zeit zeigt. Betrachtest du nun die Amseln, so wird die Vielfältigkeit von Bewegung erspürbar. Alles bewegt sich mehr oder weniger und anscheinend unabhängig voneinander und doch ist es ja ein und dieselbe Zeit, die sich darin zeigt.

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