Heideggers Internet

Dem Internet mit Heideggers Technikbegriff zu kommen erscheint so naheliegend, dass wohl noch niemand darauf gekommen ist. Darüber wundert sich auch Manuel Carabantes, ehe er es selbst unternimmt, das Internet als paradigmatisch für Heideggers Technikbegriff zu beschreiben.

Seinen Aufsatz hat er in der Zeitschrift AI & Society (vol. 36, 2021, S. 695–703) veröffentlicht bzw. versteckt. Denn dass deren Stammleserschaft mit Heideggers Thema und Stil irgendwas anfangen kann ist ebenso unwahrscheinlich, wie dass mit dem Jargon der Eigentlichkeit Vertraute zu diesem Fachblatt greifen werden.

Bei den einen wie den anderen würde Carabantes auf wenig Einspruch stoßen. Sein Hinweis auf den Absorbtionshunger, mit dem das Internet nicht bloß alle bisherigen Medien, sondern überhaupt alles in sich aufnimmt, findet mit dem „Internet der Dinge“ und den Digitalisierungsambitionen noch der kleinste Hinterwaldkommune genug Belege. Zum anderen wird es den IT-Fachleuten als eine Trivialität gelten, wenn Carabantes darauf hinweist, dass alle Inhalte im Internet nur als Informationen vorkommen können, die technisch bedingten Standards entsprechen müssen, weshalb alles, was im und durch das Internet entborgen werden soll – also: alles –, in eine technisch bedingten Standards entsprechende Form gebracht werden muss.

So einig sich Heideggerianer und IT-Fachleute darin wären, so groß wäre ihr Streit darüber, was das bedeutet. Für letztere handelt es sich um eine Abbildung der Welt, die ihr gegenüber den unschätzbaren Vorzug hat, verlustlos kopierbar und automatisch verarbeitbar zu sein. Aus fundamentalontologischer Perspektive ist es das Ende der Welt, wie wir sie kannten.

Stiefel eines Bauern, Stillleben in Öl von Vincent van Gogh, 1886

Carabantes nennt beispielhaft dafür Van Goghs „Bauernschuhe“, die den Todtnauberger selbst noch zu einer Meditation über das Dingen des Dings anregten. Im Onlinespiel „Animal Crossing“ ist das digitalisierte Gemälde nichts als verstummte Deko fürs Eigenheim aus Pixeln. Das Internet macht alles – einschließlich menschlicher Beziehungen sowie solcher Aufsätze – messbar, zählbar, steuerbar, kurzum: in den Bestand bestellbar.

Darum kann es als paradigmatisch für das herausfordernde Entbergen gelten, das das Wesen der Technik ist, die wiederum die gegenwärtige Weise ist, wie sich das Sein zeigt und verbirgt. Für Heidegger ist die Technik nicht eine historisch-gesellschaftliche Art und Weise, die Welt zu betrachten, sondern ein verbergendes Entbergen, das sich vom Sein her ereignet. Darum ist sie Sache der Ontologen und nicht der Anthropologen, Soziologen und Technikethikerinnen. Das macht die Sperrigkeit, aber auch den Reiz seines Denkens aus, wie du in LW80 geschrieben hast.

 

Öffentlichkeit

Es fehlt bei Carabantes nicht nur der Hinweis auf die Öffentlichkeit, wie Heidegger sie in den 1930ern mit ebenso antimodernistischer wie antisemitischer Geste als äußersten Subjektivismus (GA96:61 f.) abkanzelt, dem das Wesentliche unzugänglich bleibt, nicht zuletzt weil „kluge Spürhunde für das Zeitgemäße das Überlieferte neu aufkochen“ (GA95:414).

Hätte das Gespinst (Web) etymologisch irgendwas mit dem Gespenst zu tun, stünde außer Frage, dass Heidegger in seinen Schwarzen Heften vom Internet spricht, das da noch ein halbes Jahrhundert entfernt ist:

„Die letzte Form der Machenschaft kommt dann ins Spiel, wenn das ‚Wirkliche‘ und ‚Seiende‘ einen gespenstischen Charakter annimmt – das Gespenst erschreckt, spukt im Plötzlichen, gebärdet sich aufdringlich, ist ohne Hintergrund und Gehalt und die Grund-losigkeit selbst – sie läßt jede Art von Maßnahmen in jeder Hinsicht zu und verbreitet eine unwiderstehliche Verzauberung – setzt sich als das unbedingte. –“ (GA96:108)

Die Öffenlichkeit ist nicht irgendetwas Menschliches neben der Technik, sondern deren Teil, sowohl als von der Technik entborgene Menschheit als auch als eine Triebkraft des herausfordernden Entbergens. Dem entkommt nichtmal der Förster, denn der ist „von der Holzverwertungsindustrie bestellt, ob er es weiß oder nicht. Er ist in die Bestellbarkeit von Zellulose bestellt, die ihrerseits durch den Bedarf an Papier herausgefordert ist, das den Zeitungen und illustrierten Magazinen zugestellt wird. Diese aber stellen die öffentliche Meinung daraufhin, das Gedruckte zu verschlingen, um für eine bestellte Meinungsherrichtung bestellbar zu werden.“ (GA7:18 f.)

 

Mitsein 2.0

In kaum einer Hinsicht ist das Internet so paradigmatisch für Heideggers Technikbegriff wie darin, den Menschen in den Bestand zu bestellen; umso seltsamer, wie wenig Carabantes Beispiele dafür versammelt, die sich im Mitsein 2.0, also den sozialen Medien doch aufdrängen.

Eine bis heute eindrückliche Erfahrung deiner Registrierung bei Twitter im Oktober 2009 war der jäh in den Alltag eingerückte Hintergrund, vor dem alles, was in Kopf und Außenwelt vor sich ging, fortan (auch) darauf überprüft wurde, ob und wie es sich tweeten lässt. Damit bist du nicht allein: Leute suchen ihren Urlaubsort – längst ihre Mahlzeiten und Klamotten, bald wohl auch ihre tierischen und menschlichen Lebensgefährten – nach seiner Instagramability aus. Wenn man die technischen Standards erfüllt und den Bestand bestellt, wird man mit Herzchen belohnt.

Auch dieses Man selbst unterwirft sich den Vorgaben der Technik. Mögen Olaf Scholz und Helmut Schmidt auch interessante Leben leben, obwohl sie genauso heißen wie SPD-Kanzler, ist das technische Paradigma weniger nachsichtig. Die Nutzerkennung darf man anders als den Namen frei wählen, doch sie muss eindeutig sein. So wird es „gamergirl“ nicht überraschen, wenn die Kennung vergeben ist; auch „gamergirl2004“ ist besetzt und schon eine leichte Kränkung, weil jemand aus demselben Jahrgang auf dieselbe Idee gekommen ist. Es wird solange an der Wunschkennung gefeilt, bis man als „xD_g4merg1rl_7875“ an die unbezahlte Arbeit gehen kann, die Datenbanken und den Platz zwischen den mit ihrer Hilfe personalisierten Werbeanzeigen zu füllen.

Das ist, wie jede menschliche Tätigkeit, eine soziale Angelegenheit, nicht zuletzt im uneigentlichen Verfallensein:

„Der Andere ist zunächst ‚da‘ aus dem her, was man von ihm gehört hat, was man über ihn redet und weiß. Zwischen das ursprüngliche Miteinandersein schiebt sich zunächst das Gerede. Jeder paßt zuerst und zunächst auf den Anderen auf, wie er sich verhalten, was er dazu sagen wird.“ (GA2:232)

Aufmerksamkeit erhält nur der, die und das, wer und was dem Vorgegebenen entspricht bzw. ent-spricht. Wer gibt es im Internet vor? Nicht mehr nur das Man, sondern die Technik. Da ein stetig wachsender Großteil dessen, was ihr über die Welt zu wissen glaubt, über das Internet vermittelt ist, kann man hier studieren, wie sich das Sein in der gegenwärtigen Epoche seiner Geschichte zeigt und verbirgt.

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