Aristoteles und die ewige Bewegung

Der Physiker Joachim Schulz nimmt den heute Nacht anstehenden „Zeitenwechsel“ zum Anlass, seine Gedanken über Zeit fortzusetzen. Um die Physik damit nicht so alleine dastehen zu lassen, machst auch du da weiter, wo du in der Seinslehre nach wie vor feststeckst: bei der Zeit.
Als Anlass dieser Überlegungen die Uhrenumstellung auszugeben, ist natürlich rhetorischer Schmuck; kommt immer gut. Die Uhrzeit hat nichts mit der Zeit des Physikers zu tun und wenig mit der des Philosophen; und doch erweist sich die Uhr(zeit) mittels Wittgensteins grammatischer Methode als mögliche und sinnige Erscheinung von Zeit. Überlege nur, wie das Phänomen Zeit in Filmen dargestellt wird: mit Uhren, tickenden Zeigern und schaltenden Displays.

Szene aus der Folge "Roswell that ends well" der Trickserie Futurama, in der die Planet-Express-Crew wegen des unsachgemäßen Gebrauchs einer Mikrowelle ins Jahr 1947 zurückreist. (© 2003 Twentieth Century Fox)
Szene aus der Folge „Roswell that ends well“ der Trickserie Futurama, in der die Planet-Express-Crew wegen des unsachgemäßen Gebrauchs einer Mikrowelle ins Jahr 1947 zurückreist. (© 2003 Twentieth Century Fox)

Der Kniff der Regisseure, zu Uhren zu greifen, wenn es um das Phänomen Zeit geht, ist nicht allein der Unfassbarkeit der Zeit geschuldet, sondern hat durchaus seine Berechtigung. Eine Uhrzeit ist eine rein soziale Konvention, die nichts mit der Zeit selbst zu tun hat, wie sich heute Nacht, spätestens morgen zeigen wird, wenn jeder seine Uhren um eine Stunde zurückdreht, und diejenigen, die es nicht tun, am spätestens Montag deutlich anders begrüßt werden als üblich. Nicht das, was eine Uhr anzeigt, macht sie zum Symbol für Zeit, sondern dass und vor allem wie die Uhr sie anzeigt. Digitale Uhren, bei denen nicht zumindest der Doppelpunkt zwischen Stunde und Minute im Sekundentakt blinkt, lassen dich bei jedem Blick zu Recht stutzen. Könnte es nicht sein, dass sie stehengeblieben ist? Dies ist mehr als das Überbleibsel der Sozialisation mit Analoguhren, auf deren Ziffernblättern der Sekundenzeiger vorrückte oder zumindest das Ticken etwas anzeigte, was sich als der Grund erweist, warum die Uhr die Zeit so gut symbolisiert: Eine tickende Uhr, eine, die im Sekundentakt blinkt oder sich sonstwie bewegt, wird nie Zweifel auf sich ziehen, ob sie funktioniert. Ob sie falsch geht ist eine andere Sache, am wichtigsten ist, dass sie geht und das im wörtlichen Sinne, in dem auch das Gegenteil zu verstehen ist, die stehengebliebene Uhr. Die Uhr muss sich bewegen, nur dann traust du ihr zu, die Zeit anzuzeigen, und das ist des Pudels Kern. Die Uhr steht in der Zeit wie die Wassermühle im Fluss. Ihrer beider Bewegung macht sichtbar, wovon ihr einen Begriff habt, aber weder Vorstellung noch Anschauung. (Womit ein höchst prominentes Beispiel für ein Rumsfeld-Seiendes zweiten Grades gefunden wäre.)

Aristoteles behandelt – wie die Physiker – die Zeit nie an sich, sondern stets vermittelt meist durch Bewegung, z.B. im Abschnitt über die Quantität (posón), die Bewegung und Zeit wegen ihrer unendlichen Teilbarkeit zukommt. (Metaphysik 1020a). Zeit ist vornehmlich Zeit um der Bewegung willen. Darum schweift Aristoteles von der Frage nach der Zeit selbst ab, genauer: die Frage stellt sich ihm gar nicht, weil er sich von ihr ab- und dem Phänomen der Bewegung zuwendet, das sich in die – gleichfalls zeitlich vermittelten – Phänomene von Ursache (oder Anlass) und Wirkung (oder Ereignis) aufteilen lässt, von denen das eine nie ohne das andere auskommt.
Das Staunen über die Kausalität zeitigt rührende Semantik, wenn Aristoteles zum Beispiel das Aus-etwas-sein (ék tinos eînai) im Falle der Zeit als Ursache oder Anlass von Ereignissen erklärt: der Aufbruch am Morgen = der Aufbruch ist aus dem Morgen (geschehen, veranlasst). (Metaphysik 1023b)
Die Suche nach den Ursachen des Seienden ist das zentrale Thema der aristotelischen Metaphysik und auf bezeichnende Weise zeitvergessen. Der alte Grieche will einen Verkehrsunfall rekonstruieren (das Akzidentelle) und schert sich dabei nicht um die Straße, denn ohne sie gäbe es ja keine Verkehrsunfälle zu rekonstruieren. Das Wesen der Straße, quatsch: der Zeit verbirgt sich also fast schon grammatisch in den Überlegungen zum „Wenn-dann“, mit denen Aristoteles die Logik in den Alltag einführt. In 1027a marschiert er an diesen Wegmarken entlang von der Gegenwart in die Zukunft: Wenn einer dies tut, dann kann das passieren, und wenn das passiert, wird jenes folgen. In 1065a deutet er an, dass auch der umgekehrte Weg möglich ist – also von einem künftigen Ereignis über die dafür nötigen Vorereignisse zurückzugehen bis zur Gegenwart. So findet sie, was hier und jetzt zu tun wäre, um die Ereigniskette in Gang zu setzen – (ihr nennt es: Plan und Ziel), „auf diese Weise wird man von der begrenzten Zeit zwischen heute und morgen immer einen Zeitteil hinwegnehmend endlich bis zu dem gegenwärtig Existierenden gelangen.“
(Die aufgeworfene Frage nach Notwendigkeit und Zufall der Abläufe, die Jahrhunderte später im Laplaceschen Dämon ihre Ikone fand, ignorierst du vorläufig bei deinen Überlegungen zum Wesen der Zeit. Ist das legitim? Ja, denn für das Wesen der Zeit spielt es keine Rolle, ob die Dinge notwendig oder zufällig geschehen; dass sie geschehen ist die Sache.)

Jedes wirkliche Ereignis trägt seine Möglichkeit mit sich herum; diese ist in jenem aufgehoben, wie es im 8. Abschnitt des 9. Buchs heißt – dem Kapitel über das Vermögen (dynamis). Die Wirklichkeit ist dem Begriff, der Zeit und dem Wesen nach früher (i.S.v. vorrangig) als das Vermögen, weil der alte Teleologe – bei dem das Weswegen als Eigenschaft von Seiendem gilt – vor der totalen Kontingenz zurückschreckt: Einem Ding kommt nur das Vermögen der Bewegung zu, wenn es sich wirklich zu bewegen vermag. Die Dinge vermögen nicht beliebig oder gar unendlich viel zu sein, sondern ihr Vermögen ist in den Grenzen des Wirklichen eingehegt.
Umso deutlicher wird der Vorrang der Wirklichkeit vor dem Vermögen beim Vorrang der Zeit nach. Der Samenkorn ist dem Vermögen nach eine ausgewachsene Pflanze, er selbst aber ist durch eine bereits ausgewachsenen Pflanze, „denn was in Wirklichkeit ist, wird jedesmal aus dem Vermögen nach Seienden durch etwas, das in Wirklichkeit ist, […] indem jedesmal etwas als erstes bewegt; das Bewegende aber ist schon in Wirklichkeit.“ (1049b) Den allerersten Beweger, der in dieser streng kausallogischen Metaphysik notwendig ist, beweist Aristoteles im 12. Buch (1071b). Es ist ein leicht einsehbares Dilemma, dass eine Welt, die der Logik des Wenn-dann folgt, immer schon Wirklichkeit gewesen sein muss, und dass eine Welt, die aus dem Nichts entstanden ist, wohl kaum allein einer Kausalität verpflichtet ist, auf die es in seinem Anfang verzichten konnte. Du verzichtest deinerseits weiterhin auf den traditionellen Lösungsansatz dieses und weiterer Dilemmata: Gott.
Natürlich greift auch Aristoteles nicht zu diesem philosophischen Nothammer, lediglich seine scholastischen Karikaturisten sahen in seinem „ersten Beweger“ eine Möglichkeit, den heidnischen Griechen für die allein selig machende Kirche zu retten.

der Zeit nach geht immer eine wirkliche Tätigkeit vor der anderen voraus bis zu der Wirklichkeit des immerfort ursprünglich Bewegenden. (1050b)

Recht betrachtet ist der erste Beweger alles andere als personalisiert, vielmehr scheint Aristoteles eine immerwährende Grundbewegung in der Welt am Werk zu sehen: „Und ebenso ist die ewige Bewegung (kínesis aídios), wenn es eine solche gibt, nicht bloß dem Vermögen nach; und wenn es ein ewig Bewegtes gibt, so ist dies nicht bloß dem Vermögen nach bewegt, ausgenommen etwa in betreff der Richtung woher und wohin“ (1050b). Eine solche „ewige Bewegung“ bedarf keines ersten Bewegers.

Denke dir eine vollkommen windstille Erde, auf der keine Bö den Meeresspiegel kräuselt. Die leiseste Bewegung eines einzigen Fisches würde sich durch das Wasser fortpflanzen und an der Oberfläche als Wellen zu Tage treten, also entvölkere dieses windstille Meer. Es ist dann auch notwendig, die Bewegungen des Erdbodens wegzudenken, denn welche Wellen sie verursachen, hat der Tsunami im Indischen Ozean bewiesen. Immer noch gibt es dann kalte Gewässer, die in die Tiefe sinken, und Wasser aus wärmeren Gebieten, das nachfließt, und das Meer wird in Bewegung bleiben. Egal, wie gleichmäßig die Temperaturen sind, immer werden kleine Unterschiede für Strömungen sorgen. Dann ist da auch noch der Mond, der das Wasser anzieht und als Tide ringsum die Erde schleppt. Ihn und mit ihm die Bewegung von Ebbe und Flut wegzudenken, ist leicht, doch du solltest sicher gehen und dabei auch gleich die Planeten und ihre Anziehungskraft wegdenken. Denke dir sodann ein Meer ganz ohne Temperaturschwankungen – es läge auf einer Erde, die sich nicht dreht und das Meer nicht abwechselnd der Sonne und der Nacht aussetzt. Ein Meer auf der ewigen Sonnenseite würde verdunsten, eines auf der ewigen Nachtseite vereisen. Du hast nun ein Meer unter Laborbedingungen vor dir, frei von allen äußeren Einflüssen und für alle weiteren Überlegungen ohne weiteren Nutzen außer den, die Zugehörigkeit der unüberschaubaren äußeren Einflüsse zum Wesen der Sache demonstriert zu haben.
Das Meer ist das Kardinalsymbol der Zeit, weil es wesenhaft bewegt ist und bewegt wird, ohne dass ein Anfang oder ein erster Verursacher der („ewigen“) Bewegung erkennbar ist, und weil sich die Zeit in der Bewegtheit des Hierseins zeigt.
Du musst aufpassen, jetzt nicht allzu Eso zu klingen: Wenn du nur die Amseln betrachtest, die sich am Fallobst laben, spürst du die Zeit.

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