Norwegen (IV)

In den letzten Tagen hast du über die Anschläge in Norwegen nachgedacht: über die immergleichen Reaktionen der Öffentlichkeit, über den juristischen und sprachlichen Umgang mit dem Täter sowie über sein zum „Manifest“ aufgemotztes Bekennerschreiben. Bevor du dich zum Schluss dem Morden selbst zuwendest, sind noch einige Worte zu den Rechtspopulisten, Islamkritikern und Thilo Sarrazin fällig, die du gestern durch bloße Erwähnung in Beziehung zu den norwegischen Attentaten gesetzt hast. Von einer (geistigen) Mittäterschaft zu sprechen, läge nahe, weil die Tat in einem Klima verübt wurde, das die Motive des Täters begünstigt statt gehemmt hat. Allerdings ist glaubhaft, dass kein einziger selbsternannter oder als solcher titulierter Islamkritiker, Sarrazin schon gar nicht, heimliche Freude über die Anschläge hegt; unter den Rechtsradikalen wird der Mörder nur bei den größten Dumpfbacken Anerkennung finden. Die diskursiven Totengräber des Multikulturalismus haben ihre liebe Not damit, dass jemand unter Berufung auf sie die eigene Gesellschaft angreift. Man kann sich seine Anhänger nicht aussuchen, heißt es immer, aber das macht es nicht wahrer. Etwas weniger steile Thesen, weniger plakative Beispiele, weniger Vernichtungsmentalität in der Auseinandersetzung würden es auch tun; sprächen aber auch ein kleineres Publikum an, das zudem nicht nach jedem Satz auf den Biertisch trommelt, sondern womöglich gar mal einen eigenen Gedanken wagt. In gewisser Weise steht ihr in Europa jetzt da, wo die Amerikaner Anfang des Jahres nach dem Attentat auf Gabrielle Giffords standen. Sarah Palin und die Tea-Party-Bewegung stritten vehement ab, mit ihrer aggressiven Rhetorik ein Klima geschaffen zu haben, indem ein junger Mann ernsthaft glaubte, den Sozialismus mit Waffengewalt abwehren zu müssen. Die Besinnung währte damals nur wenige Stunden, ehe die Ultrarechten diesen Vorwurf als jüngste Kampagne von Adolf Obama und den Libdems zur Beseitigung der Meinungsfreiheit und Zerstörung Amerikas bezeichneten. Jon Stewart hatte da diese Woche einen schönen Beitrag über die Selbstviktimisierung der extremen Rechten; schon die Titel der Bücher, mit denen sie „USA erwache!“ fordern, lassen dich erschaudern. Es beruhigt allerdings, dass die Zielgruppe dieser Bücher eher gering alphabetisiert ist und die Titel bloß den Weg in die einschlägigen TV-Shows ebnen sollen.

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Wo bleibt eigentlich Wolfgang Sofskys Kommentar zu Oslo? Sonst ist er doch auch stets der Erste und Superlativste, wenn es um gelahrten Horrorporno geht. (Vogelgrippe wird 360 Mio. Todesopfer (menschliche!) fordern usw.) Entweder will er sich nicht als „Experte“ verheizen lassen, oder er nimmt sich diesmal etwas mehr Zeit zum Nachdenken oder glaubt, schon alles geschrieben zu haben, was zum Thema Gewalttäter zu schreiben ist. Diese Annahme hat ihre Berechtigung, denn Sofsky hat beharrlich herausgearbeitet, dass mit Vorfällen wie in Oslo immer zu rechnen ist. Egal, ob in Zukunft jedem Internet-Benutzer ein Polizist über die Schulter schaut. (Was für ein Quatsch; der Unabomber hat nicht einmal Strom gebraucht, um „sich selbst zu radikalisieren“.) Und egal, ob „Call of Duty“ nur noch im Waffenladen erhältlich ist (und sonst nichts); selbst wenn die bewundernswerte Haltung der Norweger weltweit Schule machte: Die Möglichkeit, totale Gewalt auszuüben, behält jeder einzelne Mensch, die Umstände beeinflussen nur, wann und wie sie ausbricht.
Überall, wo mehr als zwei von euch auf einem Fleck zusammensind, wird es jemanden geben, der sich gekränkt oder zurückgewiesen fühlt. Irgendwo ist einer dabei, der dann das Maul nicht aufkriegt, sondern lieber vor sich hinbrütet und dessen am Ende so überdrüssig wird, dass er dem Gegrübel mit Taten ein Ende setzt.

Neulich kam im Deutschlandfunk ein sehr hörenswertes Feature über Zombies. Du hast in deinem Lichtwolf-Beitrag über Cyberzombies (die Borg aus Star Trek und die Strogg aus Quake) den Zombie nach Romero als Ausdruck der amerikanischen Angst vor kommunistischer Unterwanderung und Übernahme dargestellt. Markus Metz und Georg Seeßlen, die Autoren des Features dagegen sehen im (modernen) Zombie-Mythos die latente Gewalttätigkeit verarbeitet, die in jedem Menschen steckt und jederzeit ausbrechen könnte – sogar in einem geliebten Menschen. Das ist eine Deutung, die du besonders seit den Morden von Oslo für besser hältst als die von dir im Lichtwolf vertretene.

Stellt sich die naheliegende Frage nach einem gefahrlosen Ventil für die Gewalttätigkeit. Überall wird kolportiert, der Täter habe sich mit „Call of Duty: Modern Warfare 2“ vorbereitet. Wäre er 15 Jahre jünger, hätte die Killerspiel-Debatte längst wieder ihre volle Breite erlangt. Dabei bietet sich gerade die beste Gelegenheit, wenn ein mehrfacher Mörder angibt, exzessiv MW2 gespielt zu haben. Doch in den Medienhäusern wissen wohl nur die jungen Praktikanten von der Sequenz in MW2, in der das Terror-Kommando, das der Spieler unterwandert hat und somit mittendrin statt nur dabei ist, auf einem Flughafen Zivilisten erschießt. Es sei darauf hingewiesen, wie umstritten dieser – in seiner Brutalität einmalige – Teil in der Spielerschaft war. Der Aggressionsabfuhr ist er ebenso wenig dienlich wie dem Spieltrieb; das Massaker regt in seiner plumpen Art nicht einmal zum Nachdenken an, was allerdings auch kein sinniger Anspruch an ein Ballerspiel wäre. Niemand spielt Ballerspiele, um ins Grübeln zu geraten; wer sie spielt, um das Töten zu üben, hat schon vor der Installation eine Macke.

Der Klassiker gesellschaftlich akzeptierter Aggressionsabfuhr ist der Kriegsdienst, auch wenn es mit dessen gesellschaftlicher Akzeptanz seit 1945 bergab geht und es angesichts traumatisierter Veteranen und terroristischer Reaktionen fraglich ist, ob Kriege die Gewalt nicht eher im- statt exportieren. Norwegen ist gemessen an seiner relativ kleinen Einwohnerzahl militärisch geradezu hyperaktiv. Allerdings wird der Täter geahnt haben, dass die NATO ihn – entgegen allen friedensbewegten Unterstellungen – am Hindukusch nicht einfach wahllos Muslime abknallen lassen würde. Vielmehr wird er gekniffen haben, weil dort die Möglichkeit besteht, dass jemand zurückschießt und es weder Health Pack noch Respawn geben wird. Die ganze Hanswurstigkeit dieses Täters, seiner Vorgänger und Nachahmer offenbart sich, wenn man ihrer Heldenkriegerpose gegenüberstellt, dass sie immer auf unbewaffnete Kinder, Jugendliche und Frauen schießen.

Neben der Metabetrachtung gehört es sich, aus dem Vorgefallenen für die Zukunft lernen zu wollen. Da gibt es nicht viel zu lernen. Der Täter war ein Pestkranker, der sich voll und ganz dem Absurden überlassen hat. Und die Pest lehrt nichts. Das gefährlichste Tier ist, das wussten wir auch vorher schon, der Mensch (besonders der junge Mann). Grund genug, sich vor euch in acht zu nehmen. Aber eben auch ein Grund zur Ehrfurcht vor der Tapferkeit derer, die sich dennoch auf andere Menschen einlassen und sich womöglich gar trauen, einen zu lieben. Das sind die wahren Helden und wer weiß, wie viele Welten sie schon gerettet haben.
Du vermutest besonders viele dieser Helden unter den Opfern in Norwegen. Darum hat der Täter jetzt genug deiner Aufmerksamkeit bekommen; sie und die höchste Anerkennung gebühren den Opfern des 22. Juli 2011.

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