Norwegen (I)

Knapp eine Woche ist seit den Anschlägen auf Norwegen mit 76 Toten vergangen. Historisch sind sie damit noch lange nicht, aber die Eindrücke hatten Gelegenheit, sich zu setzen. Weil sie wie so oft ausschließlich vermittelt sind, muss das Medium ebenso Gegenstand der Betrachtungen sein wie der Gehalt.

Bei der Lektüre von Karl Kraus erstaunt es, wie jemand, der selber publizistisch tätig ist, so vehement gegen die „Preßfreiheit“ anschreiben kann. Dieses Paradox löst sich spätestens beim Blick auf eine BILD-Titelseite auf, der selbst hier draußen unvermeidlich ist; denn einkaufen gehen musst du halt doch irgendwann. Was Springers Prachtstück nach dem „Amoklauf“ von Winnenden zur Glorifizierung des Täters beitrug, müsste als Komplizenschaft – wenn nicht mit diesem, dann mit dem nächsten dergestalt ermunterten Täter – justiziabel sein und reicht aus, um dieses Blatt – ginge es denn mit rechten Dingen zu – dichtzumachen. Aber diesen Stein werden Wallraff, Henschel und Bildblog wohl ewig wälzen müssen.

Das mediale Nachspiel von in den pazifizierten Teilen Europas verübten Gewalttaten ist schwer erträglich, nicht nur wegen seiner Erwartbarkeit. Nach den Morden von Oslo und auf der Insel Utøya war erwartbar, nicht dass berichtet wird, sondern wie berichtet wird:
Die Verdammung des Täters bestätigt seinen Wahn, sich im Krieg mit dem Rest der Welt zu befinden; der Eifer der Verdammung bestätigt ihn darin, den Gegner empfindlich getroffen zu haben. Die Darstellung des Tathergangs als best practice für Nachahmer und Pausengrusel für den Rest. Das Googeln des Täters in der Annahme, irgendeinen anderen Hintergrund aufzudecken als den, den der Täter im Vorfeld selbst aufgestellt hat. Das Googeln der Opfer in der Manier der Aasfresser, die sich Blutspuren aufleckend ihren Weg zum großen Fressen bahnen. O-Töne der Nachbarn, der Täter habe doch immer freundlich gegrüßt und alten Damen über die Straße geholfen. Die Deutung der Tat, die zu sprachlich aufbereiteter vielstimmiger Sprachlosigkeit gerät. Das Aufjazzen eines Einzeltäters zum gesamtgesellschaftlichen Symptom. Die sachlich springende und popkulturell landende Vulgärforensik. („Seine Ideologie. Seine Mission. Sein Netzwerk.“, das Trailersprech kann sich inzwischen nicht einmal mehr die ZEIT verkneifen, obwohl sie es doch besser weiß.) Die Gesetzesforderungen der Politiker, die nicht anders können, weil sie das Gefordere für ihren Beruf halten und – wie die Terrorexeperten – fürchten, ihr Schweigen könne missverstanden werden.

Die Vorhersehbarkeit der Reaktionen ist kaum zu rügen. Warum auch? Weil es immer, wirklich jedes Mal dasselbe ist?* Die Wundheilung verläuft auch stets nach dem gleichen Muster und ist über den ästhetischen Anspruch, originell zu sein, erhaben. Ein Täter muss kein Genie sein, um sich auszumalen, wie die Öffentlichkeit auf geplanten mehrfachen Mord reagiert. Diese Reaktion auszulösen ist sein Tatmotiv. Das scheint es zu ermöglichen, die Tat ex post zu vereiteln, indem der mediale Reflex unterdrückt wird: Kurze Nachrichtenmeldung über Ort, Zeit und Opferzahl, dass der Täter in Gewahrsam sowie geständig ist und politische Motive angibt.
Überdies durchsetzt das von Medienunternehmens- und nicht Informationsinteressen geleitete Ritual den Schrecken über die Tat und das Mitgefühl für die Opfer mit voyeuristischem Selbstekel. Gute Gründe also, terroristische Verbrechen wie Selbstmorde mit dem Mantel des Schweigens zu bedecken.

Ebenso gute Gründe jedoch gibt es, auch in Zukunft am immergleichen medialen Ritual festzuhalten. Zum einen würde eine solche Zäsur die Tat, auf die sie folgt, aufwerten, indem sie dem Täter zugesteht, die Gesellschaft damit verändert zu haben. Sie reagiert am besten, indem sie um die Toten und Verletzten trauert und sich schwertut, den Schock zu überwinden, sich jedoch zu nichts hinreißen lässt und genauso weitermacht wie vor dem Anschlag.
Zum anderen – und das Bild von der Wundheilung wurde nicht grundlos verwendet – dient die ebenso rituelle wie maßlose öffentliche Beschäftigung mit Tat und Täter der Verarbeitung des Geschehens. Es hat einen Grund, dass Anschläge in Baghdad, Kandahar oder Peschawar in tatsächlich drei Sätzen berichtet werden. Obwohl ihre Hintergründe komplexer sind als die des 22. Juli 2011, gibt es für Europäer kaum etwas zu verarbeiten, denn weder Täter noch Opfer scheinen euch ähnlich zu sein.

*) Es ist außerdem nicht immer dasselbe, was sich nach einem terroristischen Gewaltverbrechen abspielt. Die Art, wie die norwegische Öffentlichkeit – von der Politik über die Medien bis zum Bürger auf der Straße – mit den Anschlägen umgeht, kann gar nicht oft genug gelobt und bewundert werden. Eine solche Besonnenheit wäre in Deutschland undenkbar.

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