Der Oberbösewicht des Spätwesterns „The Salvation“ (2014) hat sein Handwerk in den Indianerkriegen gelernt. Von den Autoritäten ist kein Beistand zu erwarten – sie sind korrupt, schwach oder weit weg. In der letzten Einstellung, nachdem der wortkarge Held das Verbrechen an Frau und Kind gerächt und die bedrängte Kleinstadt befreit hat, ragen primitive Ölfördertürme in den noch blauen Himmel. Der hobbes‘sche Naturzustand des Wilden Westens war nur ein Vorgeschmack auf das Zeitalter, in dem Anspruch und Wirklichkeit in „God‘s own country“ noch weiter auseinanderklaffen.
Neofeudalismus
In den USA ist „aus dem gemeinsamen Reichtum nie ein dem Gemeinwohl verpflichtetes Gemeinwesen entstanden“ (Purdy). Die Meritokratie sollte das Versprechen einlösen, das die Aristokratie nur im Namen trägt: Herrschaft der Besten. In der Aristokratie sind Rechte und Pflichten ererbt, in der Meritokratie werden sie durch Leistung erworben. Der Soziologe Michael Young zeigte 1958 in dem Roman, der den Begriff prägte, allerdings auch die dunkle Seite der auf den ersten Blick nur gerecht erscheinenden Meritokratie: Sie entzieht den Unterprivilegierten jede Widerstandskraft, weil ihre potentiellen Führungsfiguren durch sozialen Aufstieg die Seiten wechseln und das Leben als Bodensatz ein selbstverschuldetes Los ist. Nolens volens erben die Kinder die Meriten ihrer Eltern und bilden eine Aristokratie, die zu ihrer Legitimierung kein Gottesgnadentum mehr propagieren muss (und ja auch schon Thema eines Essays war).
Der „American prosperity gospel“ lautet, jeder könne durch harte Arbeit vom Tellerwäscher zum Millionär werden: Der Spruch „Fortune favors the bold“ (mit der alles andere als demütig machenden Doppelbedeutung von „fortune“ im Englischen) ziert nicht nur manche Insignien des US-Militärs, sondern auch die Familienwappen, die sich der dortige Geldadel nach europäischem Vorbild gestalten ließ – nicht zuletzt um sich in eine Abstammung von angelsächsischen Häusern hineinzuimaginieren und das Verbrechen zu vertuschen, das am Anfang jedes großen Vermögens steht. Der Name der Ewings aus „Dallas“ ist vom Griechischen ευγενής (eugenes) abgeleitet und „Denver Clan“ heißt im Original „Dynasty“.
Nichts macht die neofeudalen Herrschaftsstrukturen so unangreifbar wie dieser Grundbass der US-amerikanischen Gesellschaft: Wenn die es schaffen konnten, kannst du es auch schaffen, und wenn du es nicht schaffst, liegt es an dir, nicht an deren Privilegien. Im amerikanischen Exzeptionalismus kommt (Selbst-)Kritik einem Verrat gleich, weshalb er sich vom Motor des Fortschritts zu dem der Regression entwickelt hat. Das Bürgertum hat das Gottesgnadentum abgeschafft und in widerstandsfähigerer Form wieder eingeführt.
Rasender Stillstand
Nicht nur in den USA muss man vom Land in die Stadt ziehen, um höhere Bildung zu genießen, und da Studium nicht alles ist, finden die meisten hier einen Job, gründen eine Familie und bleiben kleben. Die bildungsbedingte Landflucht wird durch die moderne Dienstleistungsökonomie noch verstärkt.
Auch hier ist es die Weite des Landes, dank der man sich in den USA sowohl die weltweit führenden Universitäten leisten kann als auch die gleichzeitige intellektuelle Regression ins Frühmittelalter. Nicht etwa der Witz der Late Night Shows gibt den Ton im Land an, sondern Sender wie FOX News oder OANN, deren Kommentator*innen während Trumps Amtszeit mehrfach Anlass zu Vergleichen mit dem nordkoreanischen Staatsfernsehen boten, da es hier wie dort keine Abstufungen zwischen Triumphalismus und geiferndem Zorn gibt.
Das medial-emotionale Wechselbad ist als Herrschaftstechnik nur riskant, wenn man es nicht versteht, Angst und Hass der Zuschauer mit nur von Seifenopern und Werbeblöcken unterbrochenen Tiraden über Einwanderung, Abtreibung und Waffenrecht so zu kanalisieren, dass niemand aus diesem amerikanischen Albtraum des rasenden Stillstands erwacht.
Brot und Spiele
Chris Hedges beschreibt die USA in seinem gleichnamigen Buch als „Empire of Illusion“, das, nachdem es jahrhundertelang die politische Symbolik des antiken Rom nachgeahmt hat, sich nun an die Reinszenierung von dessen dekadenter Spätphase als Farce macht. Die USA haben die Produktion und das Lesen zugunsten der (kreditfinanzierten) Konsumption und des Spektakels aufgegeben, so Hedges. Die Mehrheit mit der „celebrity culture“ als Fassade der oligarchischen Konzernherrschaft bei Laune zu halten ist effektiver als jeder Unterdrückungsapparat, weil man die Menschen gar nicht mehr zwingen muss, konsequent gegen ihre eigenen Interessen zu stimmen.
Fast ein Drittel aller US-Amerikaner kann kaum oder gar nicht lesen. Somit gehören diejenigen, die sich in den sozialen Medien darüber austauschen, wo in den USA der Geburtsort Jesu liegt oder der Zugang zu den Bunkeranlagen, in denen Hollywood-Stars und demokratische Politiker das Blut gefolterter Kinder als Jugendelixier trinken, zu den anderen zwei Dritteln.
Zwar hat Hedges in seinem bereits 2012 erschienenen Buch ein Phänomen wie den Trumpismus ziemlich präzise vorhergesagt, allerdings ist auch die Anfälligkeit dafür nichts Neues, sondern in der US-Geschichte angelegt. Im unter Republikanern besonders verbreiteten QAnon-Verschwörungsglauben taucht die seit dem Bürgerkrieg offene Frage nach der Rolle des Zentralstaats antisemitisch aufgeladen wieder auf. Und zu jedem guten Western gehören die Wanderprediger, Quaksalber und Schlangenölverkäufer, die den einfachen Leuten mit weißer Salbe das Geld aus den Taschen leihern und sich in der Covid-19-Pandemie einmal mehr als raffinierte Geschäftsleute beweisen. Der Verschwörungsguru Alex Jones lebt vor allem von Mittelchen, die wach, stark und männlich machen und – neben Prepper-Equipment und Patriotenfummeln – in seinem Onlineshop vertickt werden.
Aberglaube und Hightech
Doch wie kann ein Land, das es seit jeher liebt, getäuscht zu werden, nach wie vor die Welt mit seinem Militär, seiner Technologie und Kultur dominieren? Zum einen hatten die Spinner bisher genug Platz, um sich auszutoben, ohne ernsthaften Schaden anrichten zu können. Der andere Grund ist, dass der Kapitalismus alles andere als rational ist – besonders in seiner freidrehenden US-Version.
Der calvinistische Aberglaube, die göttliche Gnade zeige sich bereits vor dem Tod in Form von diesseitigem Wohlstand, wurde von den weißen Siedlern ins „gelobte Land“ eingeschleppt. Parallel zur Industrialisierung breitete sich in den USA des frühen 19. Jahrhunderts die Erweckungsbewegung aus, die im Televangelismus der Moderne gipfelt – der einzigen religiösen Kohorte, die überwiegend Trump unterstützt; nicht trotz seines unfrommen Betragens, sondern wegen seines (angeblichen) Reichtums.
Die Evangelikalen sind die Vereinigung und Weiterentwicklung des Wanderpredigers, der mit Hölle droht und mit Erlösung lockt, und des Spekulanten, der den einen günstige Kredite und den anderen gewaltige Zinsgewinne verspricht: Jeder Dollar an die steuerbefreiten Spiritualitätskonzerne ist (angeblich) eine Investition in jen- und diesseitigen Wohlstand, der umso höher ausfallen wird, je knapper die Kasse des Einsamen und des Verzweifelten ist, der nichts mehr außer dem Versprechen des Wohlstandsevangeliums und dem Stolz auf seine amerikanische Freiheit hat.
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