In Geschichten verstrickt

Lesebericht zu Wilhelm Schapps „In Geschichten verstrickt“ (Wiesbaden 1976) – als Vorstudie zu einem kommenden Lichtwolf-Artikel.

Dein ostfriesischer Landsmann Wilhelm Schapp (1884-1965) war 1909 der zweite Doktorand, der bei Edmund Husserl (damals noch in Göttingen) promovierte. Wie ein späterer Husserl-Schüler, der weitaus prominentere Heidegger, geht Schapp davon aus, dass euch die Welt, ihre Einwohner und Gegenstände in Sinnzusammenhängen vermittelt sind. Er nennt sie „Geschichten“ und beabsichtigt durchaus die Assoziation mit Erzählungen einerseits und der Historie andererseits. Diese Mehrdeutigkeit ist Vor- und Nachteil zugleich: Sie gibt Schapps Argumentation eine suggestive Kraft, die leicht übersehen lässt, dass sie aus wenig mehr als einleuchtenden Beispielen besteht.

Die strukturelle Verwandtschaft mit Heideggers Daseinsanalytik, auf die auch Hermann Lübbe (noch ein Landsmann!) in seinem Vorwort zu Schapps „In Geschichten verstrickt“ hinweist, reicht von der Ausgangslage – einer Phänomenologie des Alltags – bis in diese Beispiele hinein.

Der Umschlag von Schapps "In Geschichten verstrickt" ist gut (Form) und schlecht (Farben) zugleich.
Der Umschlag von Schapps „In Geschichten verstrickt“ ist gut (Form) und schlecht (Farben) zugleich.

In der alltäglichen Praxis findet ihr Dinge (wie einen Hammer oder eine Tasse) vor, die ihr für etwas gebrauchen könnt und die für diesen Gebrauch geschaffen wurden. Schapp nennt sie – mit einem methodischen Hang zum Neologismus, der das Denken von den Vor-Urteilen philosophischer Tradition befreien soll (noch eine Gemeinsamkeit mit Heidegger, wenn auch nicht so ausgeprägt wie bei diesem) – „Wozudinge“. Ihr Zweck, ihre Herstellung und ihr Alter, ihr bisheriger, üblicher und künftiger Gebrauch ist eine Geschichte, die epistemischen Vorrang vor ihrer stofflichen Beschaffenheit hat. Diese taucht nur als das „Auswas“ eines „Wozudings“ auf und ist nie losgelöst von der Frage, was man daraus / damit machen könnte.

Vom Wozuding aus macht Schapp eine Phänomenologie des Raumes auf. Der eigene Leib ist stets Bezugspunkt der Dinge im Raum, der sich horizontartig erstreckt und in dem Wozudinge auftauchen. Die Geschichte eines Wozudings – also eines menschgemachten Artefakts – ist immer gegenwärtig, taucht immer mit dem Wozuding in einem unverfügbaren Horizont aus Zeit, Erde und Himmel auf. Die Welt besteht aus und wird vermittelt über Wozudinge (sonst wüsstet ihr nichts in ihr anzufangen). Um zu zeigen, dass diese nichts anderes als ihre Geschichten sind und euch die Welt insgesamt über Geschichten vermittelt ist, destruiert Schapp die Begriffe des Allgemeinen wie der Gattung, Art und Kategorien.

Selbst baugleiche Autos sind demnach nie dieselben, da sie sich durch ihre Geschichte von der Herstellung über den Gebrauch bis zu ihrem Ende unterscheiden. Für Lebewesen gilt dies umso mehr. Ihre Geschichte verliert sich im Horizont, da jedes Wesen anderen (auch vorherigen und nachfolgenden) über seine Her- und Zukunft verbunden ist. Es taucht in seinem „Geschlecht“ als bildender Teil auf wie eine „Wellenphase im Zuge der Wellen“ (S. 64). Am Beispiel des Löwen zeigt Schapp, dass ein Lebewesen viel mehr ist als sein von der Biologie beschriebener Leib: Es ist stets im Horizont präsent als die Einheit all dessen, was ihr davon wisst, denkt und haltet, also ein mehr oder weniger auftauchendes Gebilde der Geschichten, die man über und über die man das Lebewesen kennt.

Den Vorwurf, Sachen, Flora und Fauna zu vermenschlichen, indem er allen das Verstricktsein in Geschichten zur gemeinsamen Wesentlichkeit erklärt, findet Schapp okay, zumal der weit größere Vorwurf im Raum steht, das rational-wissenschaftliche Weltbild infrage zu stellen. Was Adorno im „Jargon der Eigentlichkeit“ und in der „Negativen Dialektik“ an der bürgerlichen Philosophie nicht zuletzt der (in heutigen neurechten Kreisen sehr anschlussfähigen) Ritter-Schule kritisiert – ihr Liebäugeln mit einem relativistischen Irrationalismus, der bestenfalls affirmativ ist und schlimmstenfalls der Barbarei eine romantische Innerlichkeit verpasst –, lässt sich auch auf Schapps Schrift anwenden, wie nüchtern sie auch verfasst sein mag.

Denn wissenschaftlich festgestellte Gesetzmäßigkeiten sind für ihn genauso Geschichten wie die vom „König der Tiere“, allerdings gewonnen durch eine unzulässige Vereinzelung des Untersuchungsgegenstands auf seine Stoff- oder Leiblichkeit (ganz so, wie sich nur auf einen Ton, nicht auf das Lied zu konzentrieren) und die darauf folgende ebenso unzulässige Verallgemeinerung (alle Lieder sind die und die Tonfolgen). Die rational-wissenschaftliche Weltanschauung verfehlt Ding und Mensch in ihren Geschichten, die sie eigentlich ausmachen und allem Sinn und Platz zuweisen. Selbst im Schlaf träumen wir schließlich nicht Gegenstände und Personen, sondern Geschichten, in denen Gegenstände und Personen auftauchen. Der Begriff „Wahrnehmung“ verstellt den Blick darauf, dass Dinge und Menschen in solchen umfassenden Sinnhorizonten auftauchen, die das Geschäft der Phänomenologie sind. Damit erledigt Schapp dann auch den Begriff der Wahrheit auf ähnliche Weise wie sein „Vordenker“ Theodor Lessing, der 1919 in „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ den Menschen an die Stelle platzierte, wo Leben und Wahrheit als Wirklichkeit kulminieren, das heißt als erzählbare und erzählte Geschichte. Der Ort, wo Wirklichkeit zu suchen ist, ist auch für Schapp das Verstricktsein in Geschichten. Sofern es jenseits dessen Wahrheit gibt, ist sie unzugänglich.

 

Was also sind Geschichten?

Odo Marquard, der Schapps Geschichtenphilosophie ähnlich wie Lübbe kongenial fortsetzte, brachte sie so auf den Punkt: Ihr kennt Menschen als „den, der…“ und Dinge als „das, womit…“. Alles ist euch das, was man sich davon erzählt.

Das Ich ist für Schapp gänzlich in Geschichten verstrickt und ist „eins mit seinen Geschichten“ (S. 190). „Das Ich selbst ist dabei qualitätslos, alle Qualität liegt in den Geschichten.“ (ebd.)

Das „Wir“ kommt aus einem „Ich“, das in der ausgesprochenen Gemeinschaft als Ausgangspunkt enthalten ist – mit unterschiedlicher Tiefe, wie die Beispiele „Wir Kegelbrüder“ oder „Wir Menschen“ zeigen. Schapp sucht das große Wir in der „Weltgeschichte“, worunter er z.B. die christliche oder die naturwissenschaftliche Erzählung versteht (und nicht die Geschichten der Völker und Reiche, die sich gegen das Menschen-Wir abschnüren). Eine solche Weltgeschichte wird vorgefunden, ehe man um sie weiß. Man kann sie sich nicht aussuchen und ihr auch nicht entkommen – der Versuch wäre schon wieder eine Geschichte, die Teil von ihr ist.

Die Vorgeschichte aller Geschichten verliert sich im Dunklen. Man könnte ewig (bis zu Adam und Eva) zurückgehen, muss aber irgendwo anfangen. Jede Geschichte spielt darum vor einem Hintergrund von selbstverständlichen, d.h. vorausgesetzten und nicht weiter ausgeführten Begriffen, denn sie ist verwurzelt in „eine geschichtliche Welt, die unmittelbar mit der Geschichte mitgegeben ist.“ (S. 91) Jede Geschichte steht zudem mit anderen in lebendigem Zusammenhang. Sie taucht vor dem Hintergrund anderer Geschichten auf, die mal näher, mal ferner sind. Darum scheinen alle irgendwie verbunden zu sein und lassen sich zurück- und weiterverfolgen bis in die Geschichten, in die man gerade verstrickt ist: privater Ärger, berufliche Aufgaben, nachwirkende Träume, ein Wiedersehen mit einem alten Freund und die dadurch ausgelösten Jugenderinnerungen etc.

„Die Geschichte steht für den Mann.“ (S. 100/103) Sie sagt alles über eine Person und diese ist nur durch sie, als sie erfahrbar. Schapp entnimmt aus der eigenen Berufsgeschichte das Beispiel eines Richters, der denselben Mann aus einer Strafakte und aus einem Tischgespräch kennt. Er kennt somit zwei Männer, die er – abhängig von seiner eigenen Geschichte – in seinem persönlichen Horizont unterzubringen versucht.

Geschichten sind auf ihre Fortsetzung durchs Erzählen und Hören angelegt. Die Erzählung setzt eine Beziehung zwischen Erzähler und Hörer voraus, in dessen Horizont sich die Geschichte einfügen muss. Da man stets zu einem Zweck erzählt, ist das Erzählen Teil sowohl der erzählten als auch einer neuen Geschichte, wie es z.B. vor Gericht Alltag ist. Der Hörer wird auf diese Weise in die Geschichte mitverstrickt. Verstricktsein-in, Auftauchen und Kenntnis einer Geschichte sind dasselbe. Handeln und Verstricktsein in Geschichten sind ebenfalls dasselbe, da das Handeln kein Ausweg aus, sondern Moment der Geschichte ist.

Das Verstricktsein ist für Schapp der einzige und letzte Ort der Wirklichkeit: Jeder hat eine eigene und kann über das Erzählen und Hören an die der anderen herankommen, doch je mehr man von einer Geschichte erfährt, desto mehr wird man in sie verstrickt. So, wie man einem Fremden durch die Beschäftigung mit seiner Geschichte im Wortsinne näherkommt, kann man über die durch Selbstbefragung mühsam zu schaffene Klarheit in den eigenen Geschichten zu sich selbst, wenn auch nie aus der Verstrickung herauskommen.

 

Fazit

Schapp hat nach seiner Promotion bei Husserl sein Leben lang als Jurist (mit dem in der hiesigen Gegend lukrativen Fachgebiet „Sielrecht“) gearbeitet, ehe er sich als Pensionär wieder der Phänomenologie zuwandte. Dieser Disziplin mit ihrer methodischen Naivität ist auch der Umfang seiner Destruktion zu verdanken: Alle Wissenschaften verfehlen ihre Gegenstände, weil sie sie nicht als in Geschichten verstrickt untersuchen (können). „Wahrnehmung“ ist ein irreführender Begriff, da alles als Gebilde innerhalb eines persönlichen Horizonts auftaucht, der sich in Vergangenheit und Zukunft verliert. (An dieser Stelle erinnert Schapps Beschreibung sehr an Heideggers Ekstasen der Zeitlichkeit aus „Sein und Zeit“, wie in LW54 beschrieben und hier in ein plastisches Bild gefasst.)

Geschichten haben keinen fassbaren Anfang und Ende, sind aber zeitlich, wenn auch nicht unbedingt chronologisch kontinuierlich: Warten, Brüche und Sprünge machen sie erst zu Geschichten. In Einzelabschnitten ist stets das Ganze als Vor- und Nachgeschichte enthalten, ebenso wie alle möglichen und tatsächlichen Geschichten stets präsent sind, wenn auch nicht innerhalb des gegenwärtigen Horizonts aufgetaucht.

Das gilt erst recht für die eigene Lebensgeschichte. Es gibt keine vergangenen Geschichten, sie erhalten allenfalls eine andere Färbung (bspw. die Kindheit des Greisen). Das wiederum gilt auch für die Weltgeschichte, weil ihre Geschichten, in die ihr verstrickt seid, unabschließbar sind.

Es ist laut Schapp ein Irrtum, die Vergangenheit mit Notwendigkeit und die Zukunft mit Möglichkeit zu assoziieren, da beide einander durchdringen. Traditionelle Zeitbegriffe sind darum untauglich. Freier Wille, Kausalität und Schicksal haben keinen Sinn in der Verstrickung. Das gilt auch für Materie und die Außenwelt, die nur innerhalb von Geschichten Bedeutung haben können. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind allenfalls Berichtigungen mit rückwirkender Kraft, wie sie in allen Geschichten vorkommen, zum Beispiel in der Wirgeschichte über Sonne und Mond vor und nach der kopernikanischen Wende.

Als wäre das noch nicht genug, wendet sich Schapp gegen Ende der Phänomenologie der Sprache zu. Die Schwäche von Husserls Phänomenologie war, von Mathematik und Logik ausgegangen zu sein. Da sie alles ähnlich wie in diesen Sphären zu denken und zu sagen glaubte, musste sie an Geschichten versagen. Jeder Satz meint einen konkreten Sachverhalt, der vom Kontext, also von der Geschichte abhängig ist, und hat erst in ihr einen Sinn. Den isolierten Elementarsatz gibt es nicht, er ist so sinnlos wie das Abblenden und Verselbstständigen von Gegenständen in Bezug auf ihr „Auswas“.

Intentionale Regungen, Triebe und Stimmungen haben allesamt ihren Ursprung in den „Geschichten, in die wir als Ich oder Wir verstrickt sind“ (S. 149). Das Verstricktsein in und Auftauchen von Geschichten erledigt für Schapp die Frage nach Denken, Erkennen und Seelenzuständen insgesamt (Sprechakten sowieso), die Teile einer Geschichte sind, die ist, weil ihr in sie verstrickt seid.

Traum und Wachheit sind unter dem Aspekt der Verstrickung eins. Auch der Wahnsinn ist ein Verstricktsein in Geschichten. Fürs Verstricktsein gibt es keinen Unterschied zwischen wirklich und unwirklich, wahr und falsch. Denn auch „Sachverständige“ können keine Objektivität jenseits von Geschichten schaffen, sondern nur Geschichten fortsetzen. Die Wirklichkeit kann nicht von außen, d.h. unverstrickt in Geschichten geprüft werden. Es gibt keinen Ausweg aus Geschichten. Also richtet euch darin ein.

Adorno gefällt das nicht.

2 Gedanken zu „In Geschichten verstrickt“

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