Anlässlich des Wahltags einige Betrachtungen, wie Politik und Medien dem Rechtspopulismus nachlaufen und die Demokratie der Pöbelherrschaft preisgeben.
Ein Stück weit ernst nehmen
SPD-Chef Sigmar Gabriel berichtete Ende Februar, er höre immer wieder Sätze wie: „Für die Flüchtlinge macht ihr alles, für uns macht ihr nix.“ Das sei „supergefährlich“ – ausnahmsweise nicht „ein Stück weit“ – und darum müsse ein „Solidarpaket“ für Deutsche her. Der seine schwarze Null verteidigende Finanzminister Schäuble fand das „erbarmungswürdig“. Beides ist weder falsch noch richtig. Aus der hiesigen Erwerbsloseninitiative hörst du seit geraumer Zeit von wachsendem Sozialneid auf Geflüchtete. Neulich hast du mit einigen älteren Semestern diskutiert, deren Aussichten auf „Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt“ sich mit jedem neuen Brief vom Jobcenter weiter eintrüben. Dieses schickt jene u.a. in Maßnahmen, bei denen sie Wohnungen für Geflüchtete einrichten und mindestens „staunen“, dass „die“ „alles“ (=das Allernötigste) kriegen, während sie selbst um Ersatz für eine kaputte Waschmaschine oder Schulzeug für die Kinder betteln müssen. Außerdem führe die in eurer Gegend geradezu vorbildlich durchgehaltene dezentrale Unterbringungen von Geflüchteten dazu, dass nun vollends kein bezahlbarer Wohnraum mehr zur Verfügung steht.
Gabriel wäre Sozialdemokrat alter Schule, aber nicht amtierender Wirtschaftsminister, ließe er die Geflüchteten aus dem Spiel und dekonstruierte die „supergefährliche“ Doxa, für Flüchtlinge werde alles, für Deutsche nix gemacht. Denn nicht die Geflüchteten haben den sozialen Wohnungsbau seit Jahrzehnten zugunsten lukrativer Immobilienspekulation abgeschrieben, sondern diejenigen in Wirtschaft und Politik, denen es ganz recht ist, wenn die Armen ihre Vorwürfe und Forderungen an die Elenden richten.
Derweil nimmt sich die Presse die rechtspopulistischen Lügenpresse-Vorwürfe in einer Art zu Herzen, die jeden Verdacht, sie sei linkslastig oder sendungsbewusst, krachend widerlegt. Seit im Ukraine-Konflikt Ken Jebsens Aluhüte und andere Russia-Today-Gucker lauthals davon schwadronierten, westliche Medien würde die Bevölkerung gegen Russland aufhetzen, ist der Vertrauensverlust in die Presse hierzulande (anders als in Russland) ein Dauerthema. Die „Flüchtlingskrise“ und die Massenübergriffe in der Silvesternacht haben den paranoiden Wahn von einer staatsgelenkten Indoktrination zur Umvolkung genauso ins Kraut schießen lassen wie die „erbarmungswürdige“ Bereitschaft der Medien, den Lügenpresserufern bußfertig nachzulaufen. Vergangene Woche tagte der Deutsche Presserat über die Forderung von Journalisten, den Diskriminierungsschutz aus dem Pressekodex zu streichen.
Richtlinie 12.1 – Berichterstattung über Straftaten
In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.
Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.
Tun sich Qualitätsmedien wie die BILD ohnehin schon schwer damit, eine solche Richtlinie zu beachten, so hat diese vermeintliche Selbstzensur und Leserbevormundung „nach Köln“ nirgends zum Verschweigen der Herkunft der Tatverdächtigen geführt, wie Stefan Niggemeier belegt. Zum Glück hat sich der Presserat nicht auf die Forderung eingelassen, dem rassistischen Affen endlich ungehindert von sanktionsfreien Selbstverpflichtungen wie dem Pressekodex Zucker geben zu dürfen.
Wahltag
Die heutigen Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt gelten auch und vor allem als Abstimmung über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Gabriels vermeintliche Sozialneidprävention ist ebenso von diesem Hintergrund zu verstehen wie die Wendemanöver der CDU-Spitzenkandidaten Guido Wolf in Bawü und Julia Klöckner in RLP. Beide haben sich im Wahlkampf recht ungeschickt von der Flüchtlingspolitik der Großen Koalition zu distanzieren versucht, was ihnen am heutigen Wahltag nur schaden wird. Stammwähler goutieren Opportunismus und Illoyalität nicht, Wechsel- und Protestwähler geben ihre Stimme lieber der Fundamentalopposition gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Wolf und die bislang als Kronprinzessin gehandelte Klöckner werden für ihren Versuch, rechte Stimmen einzufangen, mit einem empfindlichen Karriereknick bezahlen müssen. Ähnlich wie der ebenfalls mal gewesene CDU-Kronprinz Norbert Röttgen, der 2012 in NRW vorgemacht hatte, wie man eine Wahl gegen die eigene Parteichefin und Kanzlerin verliert, wird Klöckner für eine Weile mit Eselsmütze in die Ecke gestellt werden, um sich tüchtig zu schämen.
Das könnte alles recht und billig sein, ginge nicht auch ein Stück der Grundierung eurer Demokratie gerade den Steinbach herunter. Wer den Antifa-Slogan „Kein Fußbreit dem Faschismus“ stets für zu radikal, zu um-, über- und „raumgreifend“ hielt, darf dieser Tage beobachten, wohin es führt, wenn man das Ressentiment als vermeintliche „Sorgen und Ängste der Bürger“ ernst nimmt (wie Sigmar Gabriel es auch jenseits des Wahlkampfs tut). Die politische Klugheit der Gabriels und Klöckners, die verbreitete Skepsis bis Ablehnung der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik zum Anlass für eine Anpassung der persönlich vertretenen Haltung zu nehmen, geht auf Kosten der politischen Kultur. In der irrigen Hoffnungen auf ein paar Prozent mehr stärken sie den Rechtspopulismus, indem sie auf ihn zugehen. Denn die Leute, weiß der Front-National-Begründer Jean-Marie Le Pen, „wählen lieber das Original“, wie sie es bei den hessischen Kommunalwahlen getan haben und bei den heutigen Landtagswahlen auch wieder tun werden. Der gesamte politische Diskurs wird nach rechts verschoben. Die nach 1945 mühsam errichteten Schranken des politischen Anstands werden nicht mit einem Hauruck eingerissen, sondern nach und nach aufgegeben: ein Stück weit dem Faschismus.
Pöbelherrschaft
Aristoteles war wie Winston Churchill kein allzu begeisterter Demokrat. In der Nikomachischen Ethik beschreibt er die Demokratie als die am wenigsten bedenkliche Abart der schlechtesten der drei guten Regierungsformen, wie ja auch Churchill die Demokratie für die schlechteste Staatsform hielt – mit Ausnahme aller anderen. Der Geschichtsschreiber Polybios brachte Schwung in die aristotelische Staatslehre. Er wollte im Aufstieg und Fall der antiken Reiche beobachtet haben, dass sich Monarchie stets in Tyrannei, diese in Aristokratie und dann in Oligarchie, diese in Demokratie und dann in Pöbelherrschaft entwickle, um dann, im Zustand größter Unruhe, wieder den ordnungsstiftenden Alleinherrscher auf den Thron zu holen, womit das Spiel von vorne beginne. Eine Verfassung, die Elemente aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie enthalte, sei zwar stabiler, aber auch nicht für die Ewigkeit.
Weitaus begeisterter von der Demokratie zeigen sich Joseph Goebbels (NSDAP) und Björn Höcke (AfD). Dieser wollte mit seinen Parteigenossen in den Reichstag,
„um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. […] Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren.“
Jener wiederum fordert einen bundesweiten Volksentscheid nicht nur über die Zuwanderung, sondern gleich über alles, was das von der politischen Korrektheit gegängelte „Volk“ nicht abschaffen oder einschränken darf. Kurzum: Es geht um einen von normativen Grenzen und moralischen Selbstverpflichtungen befreiten Volkswillen. Die bloße volonté de tous personifiziert dann der starke, gewählte Mann, der wie in Russland, Ungarn, Polen oder der Türkei – wohin Pegidisten, AfD-Wähler und Aluhüte mit offener oder heimlicher Sehnsucht blicken – den komplizierten Wirrnissen zwischen Demokratie und Pöbelherrschaft ein Ende in den Grenzen von 1937 macht.
„Deutschland profitiert vom Dominoeffekt der Schließung der Grenzen auf der Balkanroute zwischen Österreich und Mazedonien. Die Menschen stranden nun zu Zehntausenden in Griechenland, sammeln sich unter katastrophalen Zuständen an der Nordgrenze des Landes und fordern von dort Durchlass nach Deutschland.“ (Tagesschau)
Ebenfalls vergangene Woche suchten die EU-Regierungschefs und die Türkei auf einem weiteren Krisengipfel eine Lösung für die Flüchtlingsfrage, während die Balkanroute abgeriegelt wurde und die in Griechenland festsitzenden Flüchtlinge zum Vorteil Deutschlands im Schlamm versanken. Mit dem Ergebnis des Gipfels – einem schaurigen Flüchtlings-Tauschhandel mit der Türkei, die einige Milliarden Euro mehr, beschleunigte EU-Beitrittsverhandlungen und Visa-Erleichterungen für seine Bürger herausholte – war niemand so richtig glücklich. Aus allen politischen Lagern und Institutionen kam einhellige Schimpfe darüber, man dürfe sich von Ankara nicht unter Druck setzen, erpressen oder in eine Abhängigkeit zwingen lassen. Auch fehlte nur selten der Hinweis auf die autoritären Tendenzen der Türkei, die wie zum Hohn Meinungsfreiheit und Minderheitenschutz einschränkt, während die Wahrer der europäischen Werte bereit sind, alles zu tun, damit Recep Tayyip Erdogan die Flüchtlinge nicht aus Kleinasien gen Europa ziehen lässt. Nicht einmal die Linke Sahra Wagenknecht kommt auf die Idee, dass nicht die Türkei das Problem ist.
Es besteht gar keine Notwendigkeit, das, was Demokratie von Pöbelherrschaft unterscheidet – Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Menschenrechtsgarantie –, mit dem Hofieren Erdogans zu verraten. Die führenden Politiker der Europäischen Union tun das aus freien Stücken, sei es weil sie selbst Rechtspopulisten sind, sei es, weil sie deren fremdenfeindlicher Stimmungsmache nachlaufen.
Woran liegt es, dass von den USA über Europa bis nach Russland der autoritäre Populismus gen Regierungsviertel marschiert? Jakob Augstein verdächtigt einen bekannten Intensivtäter: „Es ist der westlich geprägte Kapitalismus, der in seiner Krise dabei ist, einen neuen Faschismus zu gebären.“
Georg Seeßlen blickt in die Vergangenheit und nahe Zukunft:
„Die populistische und die extreme Rechte sind in den entscheidenden Punkten einig. Es geht zuerst gegen die Fremden, die Homosexuellen, die Linken, die Frauen, die Toleranten, die Freien …, es geht am Ende gegen die Freiheit selbst.“
Sein kluger Rat lautet, nicht auch die gegenwärtige Krise ungenutzt zu lassen, sondern die Demokratie zu retten, indem man sie ernst nimmt und nicht das Ressentiment: „Eine demokratische Zivilgesellschaft braucht keine Angst vor Zuwanderung zu haben; sie muss nur Angst vor Anti-Demokraten haben.“
2 Gedanken zu „Ein Stück weit dem Faschismus“