Eindimensionales Denken avant la lettre

Es wird mal wieder Herbert Marcuses eindimensionaler Mensch gelesen. Dabei ist der schlaue Gerd einem Hinweis aus „Triebstruktur und Gesellschaft“ nachgegangen und hat in Schillers Briefen sowohl eine Diagnose der eindimensionalen Gesellschaft avant la lettre gefunden als auch eine Ahnung dessen, was nicht-repressive Entsublimierung sein könnte.

 

Bedingung dafür, einen Staat der Freiheit zu schaffen ist für Schiller die „Totalität des Charakters“, also Harmonie der Triebe und Kräfte. Die wird durch ästhetische Kultur hergestellt, weshalb Schillers Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von 1795 vor allem politische Essays sind.

Seine Denke gilt „überhaupt allen Völkern, die in der Kultur begriffen sind, weil alle ohne Unterschied durch Vernünftelei von der Natur abfallen müssen, ehe sie durch Vernunft zu ihr zurückkehren können.“ In seiner Idealisierung der griechischen Kultur ist er ganz Kind seiner Zeit, das sich für den schizophrenen Zustand seiner Gegenwart – gemessen am antiken Ideal – tüchtig schämt:

„Damals, bei jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte, hatten die Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigentum; denn noch hatte kein Zwiespalt sie gereizt, miteinander feindselig abzuteilen und ihre Markung zu bestimmen. […] So hoch die Vernunft auch stieg, so zog sie doch immer die Materie liebend nach, und so fein und scharf sie auch trennte, so verstümmelte sie doch nie.“

Heute, d.h. damals schon und heute noch mehr ist die Gesellschaft als ganze zwar mit höherem Lebensstandard gesegnet, wie Schiller zugibt. Aber sie zahlt für ihren Fortschritt den Preis, ebenso unnachgiebig durchrationalisiert wie das dafür zugerichtete Individuum sein zu müssen. Schillers Zeitgenossen „sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind.“ Und später: „Wieviel also auch für das Ganze der Welt durch diese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag, so ist nicht zu leugnen, daß die Individuen, welche sie trifft, unter dem Fluch dieses Weltzweckes leiden.“

Rationalität und Kultur zerrissen – da ist Schiller ganz bei Rousseau – den umfassenden „Bund der menschlichen Natur“, zu dem nun auf dem Umweg der ästhetischen Erziehung zurückgefunden werden müsste, sobald das Unheil erstmal durchschaut ist.

Eine solche Stelle im 6. Brief wird Herbert Marcuse dick und fett angestrichen haben:

„Diese Zerrüttung, welche Kunst und Gelehrsamkeit in dem innern Menschen anfingen, machte der neue Geist der Regierung vollkommen und allgemein. Es war freilich nicht zu erwarten, daß die einfache Organisation der ersten Republiken die Einfalt der ersten Sitten und Verhältnisse überlebte, aber anstatt zu einem höhern animalischen Leben zu steigen, sank sie zu einer gemeinen und groben Mechanik herab. Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoß und, wenn es not tat, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruckstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruckstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. Aber selbst der karge fragmentarische Anteil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganze knüpft, hängt nicht von Formen ab, die sie sich selbsttätig geben (denn wie dürfte man ihrer Freiheit ein so künstliches und lichtscheues Uhrwerk vertrauen?), sondern wird ihnen mit skrupulöser Strenge durch ein Formular vorgeschrieben, in welchem man ihre freie Einsicht gebunden hält. Der tote Buchstabe vertritt den lebendigen Verstand, und ein geübtes Gedächtnis leitet sicherer als Genie und Empfindung. […]

Und so wird denn allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein friste, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet. Genötigt, sich die Mannigfaltigkeit seiner Bürger durch Klassifizierung zu erleichtern und die Menschheit nie anders als durch Repräsentation aus der zweiten Hand zu empfangen, verliert der regierende Teil sie zuletzt ganz und gar aus den Augen, indem er sie mit einem bloßen Machwerk des Verstandes vermengt; und der regierte kann nicht anders als mit Kaltsinn die Gesetze empfangen, die an ihn selbst so wenig gerichtet sind.“

In so einer eindimensionalen Welt gilt: „die Wahrheit wird so lange Märtyrer machen, als die Philosophie noch ihr vornehmstes Geschäft daraus machen muß, Anstalten gegen den Irrtum zu treffen.“

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