Trump und die einfachen Leute

Die ersten Kommentare am 9. November entsprachen dem Schockzustand, in dem sich der Großteil der kommentierenden Zunft befand, der zuvor ausdauernd und mit Gründen eine Wahl Trumps für Irrsinn gehalten hatte.

David Remnick wies alle Versuche, die Präsidentschaft Trumps zu „normalisieren“, im Voraus zurück. Denn die Grundlage seines Wahlsiegs waren Ressentiments und Verachtung des politischen und menschlichen Anstands. Faschismen fingen so an. Auch Andrew Sullivan geht ernsthaft davon aus, dass es Trump gelingen könnte, die kontrollierenden und mäßigenden Verfassungsorgane gestützt auf die republikanische Kongressmehrheit gleich- oder auszuschalten. Es wäre nicht die erste Demokratie, die sich selbst abschafft. Die Geschwindigkeit, mit der Rechtspopulisten die Demokratien demontieren, denen sie ihre Macht verdanken, ist schließlich atemberaubend: Nach dem 30. Januar 1933 hat es in Deutschland nur vier, fünf Wochen gebraucht, in Ungarn, Polen und der Türkei dauert(e) es etwas länger…

David Wong versuchte dagegen, seine erschütterte Leserschaft aufzurichten: Weder sei die in den letzten Jahrzehnten durchgesetzte gesellschaftliche Liberalisierung rückgängig zu machen, so ruft er seinen Lesern ins Bewusstsein, noch bestünde das Land plötzlich zur Hälfte aus Nazis. Dieser falsche Eindruck war nämlich das eigentlich Erschütternde in der Nacht vom 8. auf den 9. November. Wie konnten so viele (und nicht die Mehrheit der) US-Amerikaner für Trump stimmen?

 

Die Trump-Wähler jenseits der Filterblase

Malte Henk hat im März mit seinem Social-Media-Selbstexperiment die eindrücklichste Erklärung dafür geliefert, warum Menschen gegen die Faktenlage felsenfest davon überzeugt sind, dass Flüchtlinge den Untergang des Abendlandes bedeuten und die AfD die einzige Rettung ist: In rechten Filterblasen zirkulieren ausschließlich Meldungen über kriminelle Ausländer und einen überforderten Staat. Wer sich nichts anderes als das reinzieht, muss selbst bei vorzüglichster humanistischer Bildung irgendwann xenophob werden.

Über den menschlichen Hang zu Bestätigungsfehlern und Echokammern Bescheid zu wissen schützt nicht davor, ihm selbst anheim zu fallen. Der Schock über Trumps Wahlerfolg ist darauf zurückzuführen, bietet aber auch manche Selbst-Ent-Täuschung über die „Lügenpresse“ und die Wähler, die so abgestimmt haben wie diejenigen, die auf Trump-Veranstaltungen „Lugenpresse“ und „Jew-S-A“ skandieren.

Zum einen haben sich „Mainstream-Medien“ und die Intelligentsia als tatsächlich voreingenommen entpuppt. Dahinter steckte keine Verschwörung, sondern der erwähnte allzumenschliche Hang und das schöne Gefühl, auf der Seite der politischen Vernunft zu stehen. Es ging in diesem zweiten postfaktischen Wahlkampf (nach dem Brexit) aber alles andere als vernünftig zu. Auch deshalb hättest du wie so viele niemals mit diesem Ergebnis gerechnet (genau wie beim Brexit).

Der Schock darüber, dass die US-Amerikaner Trump trotz oder wegen seiner unsäglichen Äußerungen und spektakulären Inkompetenz gewählt haben, wäre jenseits der Filterblase der Filterblasentheoretiker geringer gewesen. Denn wenn man (wie du) Trump-Anhänger nur durch John Oliver, Samantha Bee und aus der Daily Show kennt, erscheint der Sieg der schimpfenden Fantaflasche mit Haarteil als der Triumph der bildungs-, frauen- und fremdenfeindlichen, bigotten, homophoben und rückwärtsgewandten White Trash Waffennarren, als der er von eben diesen gefeiert wird, obwohl er es nicht ist.

Denn Wong hat Recht: Die sind nur die laute und in den liberalen Ostküstenmedien mit dem Staunen, das dem Lachen vorausgeht, herumgezeigte Minderheit in der Gruppe der Trump-Wähler, deren Stimmabgabe am 8. November ein verzweifeltes „no more“ war, das vorher und nachher im weinerlich-brutalen Geheul der alt right untergegangen ist.

Die meisten Wähler haben nicht für Trump und das, wofür er steht, sondern gegen Rodham Clinton und das, wofür sie steht, gestimmt. In der liberalen Filterblase erscheint das als eine riesige Dummheit. Man schaue nur, wie die famose Jessica Williams sich Anhänger von Bernie Sanders vornimmt, die – nachdem sich Rodham Clinton als Kandidatin der Demokraten durchgesetzt hat – für Trump stimmen wollen:

Das wäre doch, als wenn sie lieber Hundescheiße essen würde als in das Restaurant zu gehen, das ihre Freunde demjenigen vorziehen, in dem sie ursprünglich gern gegessen hätte. Mit dieser lustig-luziden Analogie begräbt Williams die Erklärung, die sich eine nicht mehr junge, nicht mehr schlanke und ziemlich müde wirkende Frau nach der peinlichen Befragung abgerungen hatte: „It’s not going to Donald Trump, it’s going away from Hillary Clinton.“

Ein anderer wahrscheinlich typischer Trump-Wähler ist kurz in den Szenen des US-Wahl-Specials zu sehen, die das Neo Magazin Royale herausgeschnitten hat, um mehr vom illustren künftigen US-Botschafter in Deutschland, „Frédéric von Anhalt“ zeigen zu können. Ab Minute 6:22 unterhält sich Jan Böhmermann mit einem durchaus sympathisch und überhaupt nicht verrückt wirkenden älteren Herrn, der in Rodham Clinton eine Gefahr sieht und sich eine Rückkehr der USA zu Gott wünscht, ohne den alles Geld wertlos sei. Auf Böhmermanns Frage, ob Trump denn dafür der Richtige sei, stockt der Mann kurz, muss dann verneinen und lachen. Er wird trotzdem, wie die erschöpfte Sanders-Anhängerin, für Trump gestimmt haben.

 

„Wir müssen mit denen reden.“

Populisten sind – ob links oder rechts – gut an ihrer Empfehlung zu erkennen, Trumps Sieg sei auch für die europäische Politik ein Warnschuss. Viel zu lange habe eine Elite die „einfachen Leute“ und ihre Sorgen ignoriert. Alexander Gauland hat das Tríumphgeheul der AfD („Wir sind Präsident!“) nur unterbrochen, um den Ratschlag zu ventilieren, die Politik müsse „dem Volk nun aufs Maul schauen“. Das ist doppelt falsch. Denn Politiker wie Trump, Gauland und Konsorten bedienen sich einer fremdenfeindlichen Gossensprache, um zu maskieren, dass sie insgeheim eine viel schamlosere Klientelpolitik verfolgen, als sie es den „Altparteien“ vorwerfen. Zum anderen will „das Volk“ nichts mehr hören (schon gar nicht in einer nachgeäfften Sprache, die noch mehr demütigt als der unverständliche Technokraten-Jargon), sondern gehört werden.

Das wiederum bringt zwei Schwierigkeiten mit sich, denn diese „Volk“ besteht aus den sogenannten „einfachen Leuten“ und denen, die sich anmaßen im Namen dieser schweigenden Mehrheit herumzukrakeelen. Mit letzteren kann man, kann „die Politik“ reden, es führt nur zu nichts: Die laute Anhängerschaft der Populisten hat die große Koalition in Deutschland genug eingeschüchtert, um sie das Asylrecht bis an die Grenze seiner Abschaffung einschränken zu lassen. Selbst der letzte Schritt wäre den Unnachgiebigen nicht genug. Paul Mason erteilt der von der Linken angeblich zu ziehenden Lektion, mit dem rechtswählenden Mob zu reden, darum zu Recht eine deutliche Absage:

Those who tell you the left has to somehow “reconnect” with people whose minds are full of white supremacy and misogyny must finish the sentence. […] Eighty years ago the poets and miners of the International Brigades did not march into battle saying: “Mind you, the fascists have got a point.”

Doch so wenig, wie Trump-Wähler allesamt Ku-Klux-Klan-Anhänger sind, deren beste Argumente ihre Fäuste sind, so wenig sind AfD-Wähler allesamt Neonazis, mit denen zu sprechen, denen zuzuhören dem Faschismus „ein Stück weit“ Raum böte. Mit diesem bis zum Verstummen leisen Teil, den eigentlichen „einfachen Leuten“ muss man sich auseinandersetzen: nicht um sie „zurückzuholen“, sondern weil der schweigende und politisch desinteressierte Teil der Gesellschaft eben ein Teil der Gesellschaft ist, und zwar weder ein kleiner noch ein auch nur im Geringsten verabscheuungswürdiger.

Jeder kennt solche „einfachen Leute“, die nicht für Trump oder die AfD stimmen, sondern gegen die „ganze alte Scheiße“ (Marx). Das sind zum Beispiel Kollegen, deren Lebenswelt dir so fern ist, dass du mit ihnen höchstens über das Wetter sprechen kannst. Sie zeigen sich verwundert darüber, wie man sich die Nacht vorm CNN-Livestream um die Ohren schlagen kann. Politik interessiere sie „echt nicht“, bekunden sie verlegen. Dieselben einfachen Leute nehmen das Ergebnis der US-Wahlen am nächsten Morgen achselzuckend oder mit offener Häme zur Kenntnis: Das hat die Politik jetzt davon, wenn sie immer über die Köpfe der einfachen Leute hinweg entscheidet!

Das sind aber dieselben einfachen Leute, die bekunden, Politik ginge ihnen am Arsch vorbei. Das sind die einfachen Leute, die noch nie an einer Ratssitzung oder Parteiveranstaltung teilgenommen haben, auf Facebook nichts zur Kenntnis nehmen, was über einen in ein weichgezeichnetes JPEG eingebetteten Kalenderspruch hinausgeht, von den Weltnachrichten oder ihrem Bundestagsabgeordneten erst recht nichts wissen wollen! Gingen Parteivertreter – am besten Merkel persönlich – täglich von Tür zu Tür, um jedermann „ihre Politik zu erklären“, würden die einfachen Leute sie wahrscheinlich nicht einmal hereinlassen.

Es gibt in der deutschen Demokratie mehr Partizipationsmöglichkeiten denn je. Die einzige Hürde bei den meisten besteht darin, sich erstmal zu informieren und ein Urteil zu bilden, ehe man den Schnabel aufmacht – und selbst das ist für viele schon Zumutung genug. Die Auffassung, sich einzumischen brächte doch eh nichts, ist genauso kindisch wie die mit ihr zusammenhängende, Politik sei eine Art Dienstleistung, jedermanns Wünsche zu erraten und zu verwirklichen. Die Politik hat ihren Beitrag zu diesem postdemokratischen Verständnis ihrer selbst geleistet, indem sie die Debatten in krawalligen Talkshows und die Entscheidungen in die Hinterzimmer verlegt hat. „Wir kümmern uns um die ganze alte Scheiße“, so die Botschaft, „damit ihr in Ruhe konsumieren könnt.“

Nun, da ihnen das ganze nicht mehr behagt, haben die „einfachen Leute“ es verlernt sich einzumischen. Wie glorreich erscheint da ein Putin mit seinen mehrstündigen TV-Audienzen, in denen Anrufer eine kaputte Straße beklagen, die Stunden später medienwirksam per Ukas asphaltiert wird. Medienprofi Trump wird ein ähnliches Format bereits in der Pipeline haben.

Da applaudieren die „einfachen Leute“ dem großen Mann, der nicht lange redet, sondern handelt. Endlich ist Schluss mit den langatmigen Abstimmungsprozessen, an deren Ende immer nur Kompromisse herauskommen, die dann doch wieder nur „denen da oben“ nutzen; dazu ist doch diese Demokratie verkommen, oder?

Wenn dir nicht passt, wie sich deine Demokratie entwickelt hat, dann finde erstmal deinen Beitrag zu dieser Entwicklung! Denn Demokratie braucht mehr als nur Wähler. Und es scheint das einzig Gute an Trumps Wahlsieg zu sein, vielen einfachen Leuten in den USA und Europa genau das in Erinnerung gerufen zu haben. Es hat den Vietnamkrieg gebraucht, um das Civil Rights Movement voranzubringen, es hat George W. Bush gebraucht, damit Obama ins Amt kommen konnte, und wer weiß, wofür Trump der Preis gewesen sein wird, der im Voraus gezahlt werden muss und hoch sein wird: So, wie der Brexit die Fremdenfeinde in Großbritannien nicht besänftigte, sondern zu einer Welle von Gewalt ermunterte, haben ähnliche traurige Meldungen aus den USA nicht auf sich warten lassen.

 

Ausblick mit Platon

Platons „Politeia“ wird in diesen Tagen zurecht wieder häufiger in die Hand genommen. Es ist ein Trostbuch für alle, die über die verkapselte Realität der postfaktischen Politik verzweifeln. Denn Platon beschrieb vor 2.500 Jahren im 8. Buch (PDF) die aktuelle Entwicklung als einen Abschnitt der zyklischen Entwicklung von Gemeinwesen. Nach ihrer idealistischen Gründungsphase zerfallen sie in oligarchische Dynastien, die Geld und Macht anhäufen. Während die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, verlieren Werte und Grundsätze ihre Bedeutung. Die Demokratie als weitere Verfallsstufe ist die sittliche Anarchie, in der alles erlaubt ist, weil nichts außer dem Erfolg mehr zählt.

O, mit welcher Großartigkeit gibt der demokratische Staat allen diesen Grundsätzen einen Tritt und bekümmert sich gar nicht darum, von welcherlei Bänken der Kandidat eines Staatsamtes herkommt, wenn er nur versichert, ein gesinnungstüchtiger Volksfreund zu sein! (Platon, Politeia, 8. Buch)

Der rücksichtsloseste gesinnungstüchtige Volksfreund gewinnt die Gunst der Leute mit dem Versprechen, sie von Chaos und Elend zu erlösen, und gehört doch selbst zu den Verursachern und Profiteuren ihrer Misere. So muss er, um seine errungene Macht vor ihnen zu schützen, eine Tyrannei errichten. Damit endet die Verfallsgeschichte, um mit dem irgendwann unabwendbaren Sturz des Tyrannen und die Neubegründung des Gemeinwesens durch vernünftige Idealisten von vorn zu beginnen.

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