Im „Kapital“-Kurs, den du im Studium pflichtbewusst absolviert hast, kamen dir bereits im Abschnitt über die Wertform ernste Zweifel, ob du hier irgendwas würdest reißen können. „20 Ellen Leinwand sind ein Rock, klar, weil die im Rock vergegenständliche durchschnittliche gesellschaftliche Arbeitszeit äquivalent ist zu derjenigen in 20 Ellen Leinwand. Das ist doch ganz simpel! Aber wenn der Marx das so umständlich erklärt, habe ich anscheinend irgendwas nicht kapiert“, so dein damaliger Gedanke.
Im Zuge deines Vorhabens, täglich bis zum 150. Geburtstag des Kapitals mindestens zwei Seiten zu lesen, hast du diesen ominösen Abschnitt inzwischen hinter dich gebracht. Bei der Relektüre ging dir auf, was dir als kleiner doofer stud.phil. verborgen blieb. Marx erklärt die Wertform der Ware so ausführlich, weil (1) diese Auffassung in der damaligen politischen Ökonomie ziemlich neu und umstritten war und (2) der Autor womöglich bereits die Arbeiterbildungsvereine als Publikum seiner Schrift im Sinn hatte.
Euch Spätgeborenen ist Marxens Werttheorie auch ohne Kapital-Lektüre sofort einleuchtend. Sie ist ins Allgemeinwissen eingegangen, wie es scheint. Und doch: Nach inzwischen über drei Jahrzehnten neoliberaler Gehirnwäsche, im Zuge derer das W in der Gleichung G-W-G‘ für vernachlässigbar erklärt worden ist, müsste Marx die Wertform noch geduldiger erklären als vor 149 Jahren.