Der Chemiker Erwin Chargaff entdeckte die DNA-Basen Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin, was eine entscheidende Vorarbeit für die Entdeckung des Doppelhelix-Modells war, das heute in keinem Zombiefilm fehlen darf. Chargaff (geboren 1905) gehörte der Generation von Naturwissenschaftlern an, die sich noch „Naturforscher“ nannten und eine humanistische Bildung als unerlässlich für die Arbeit im Labor betrachteten.
Dieser Geist ist in jeder Zeile seines Aufsatzes „Zu müssen, was man nicht soll“ in Scheidewege (Jahrgang 19) von 1989/90 wirksam. Chargaff schreibt mit bisweilen aphoristischer Eleganz über „Sachzwänge“ und „Bioethik“, zwei damals noch recht junge Begriffe, die für ihn das ganze Elend der zur industrienahen Naturwissenschaft verkommenen Naturforschung markieren. (Die Essays von Konrad Adam und von Otfried Höffe im selben Band haben ja schon hinreichend die fortschritts- und technikkritische Ausrichtung der Zeitschrift belegt.)
In den späten 1970ern, so hat Chargaff bemerkt, taucht erstmals im deutschen Sprachgebrauch das Unwort „Sachzwang“ auf, das seit 1980 auch im Duden zu finden ist. Neologismen wie dieser erscheinen, wenn „neue Vorstellungen, ungewohnte Bedingungen, manchmal jedoch auch modische Trotteleien sie erfordern“ (S. 24).
Beim „Sachzwang“ ist es anders: „Gäbe es wirklich so etwas wie einen durch Sachen ausgeübten Zwang, so hätte die Sprache es lange vor unserer Zeit ausgedrückt.“ Der Sachzwang ist, so Chargaff, die Rechtfertigung dafür, in Forschung und Technik so weiterzumachen wie bisher – trotz der längst absehbaren katastrophalen Folgen.
Die Virulenz des Sachzwangs im Reden und Denken ist für Chargaff ein Symptom des Wandels von Selbstverständnis und Arbeitsweise in den Naturwissenschaften. Im Zweiten Weltkrieg haben sich die mit ihr Befassten als eigener Stand (Fachleute) etabliert und sowohl der Spezialisierung als auch dem (technischen) Fortschritt verpflichtet (S. 26-27). War Naturforschung zuvor eine mußevolle und zweckfreie Geistestätigkeit (kaum noch vorstellbar), ist nun „schnelles Denken“ gefragt: „Bevor der Computerblödsinn losbrach, war schnelles Denken eine Varietékunst; ‚tief‘ oder ‚gründlich‘ erschienen als passendere Adjektive.“ (30)
Ein normatives Regelwerk gab es nicht und vorher auch nicht, wie es ja auch beim Geigenspiel und in der Tischlerei fehlt. Nötig wäre es aber in der naturwissenschaftlichen Forschung wegen des in ihrer modernen Ausprägung grassierenden Schwindels und Lobbyismus (S. 28); aber auch, weil es nun nicht mehr um das Erforschen, sondern um das Verbessern der Natur geht (S. 29). Um die Natur im Sinne des technischen Fortschritts umzuerziehen, braucht es „Forschungssklaven“, deren Resultate „nicht nach ihrer intellektuellen Wichtigkeit, sondern nach ihrer Gängigkeit, ihrer Verkäuflichkeit beurteilt werden.“ (S. 31)
Wie so oft beim Blättern in dieser bald drei Jahrzehnte alten Zeitschrift bleibt das Staunen nicht aus, was alles wie lange schon von welch klugen Leuten wirkungslos beklagt und angemahnt wurde. Chargaff kann man wohl kaum als durchgeknallten Hippie oder frustrierten Geisteswissenschaftler abtun; wohl kann man seine Einwände abhaken als diejenigen eines Grundlagenforschers, der mitansehen muss, wie das von ihm mitentdeckte Genom zu wissenschaftlich-wirtschaftlichen Freiwild wird. Die öffentlich transpirierten Erfolge von Craig Venters Gentech-Unternehmen musste der 2002 verstorbene Chargaff noch miterleben.
Bioethik = Militärmusik
„Die Ethik ist ein gebrechliches Zierpflänzchen, und nach vielen tausenden Jahren haben wir noch immer nicht gelernt, wie man es bewässern soll.“ (S. 27)
Die prometheische Scham ist ein Dauerbrenner in Scheidewege, so auch in Chargaffs Essay. Der Mensch ist von der Technik überholt worden: „Je mehr diese verfeinert wird, desto mehr vergröbert sich sein Geist.“ (S. 31) Da meint man auch Marcuse mit der im eindimensionalen Menschen ein Vierteljahrhundert zuvor beschriebenen repressiven Entsublimierung zu hören!
Die Bioethik ist für Chargaff jedenfalls keine geeignete Lösung für die von ihm diagnostizierte Krise der Naturwissenschaft (deren gefeierte Erfolge diese unterstreichen), denn sie verhält sich zur Ethik „wie Militärmusik zur Musik“ (S. 32). Es ist noch viel ärger: „Wo es Krisen gibt, gibt es Fachleute zu ihrer Verschärfung.“ (S. 31) Das nämlich sind die Bioethiker, die „mit Unterstützung der einschlägigen biotechnischen Industrie sich in Amerika breitmachten“ (ebd.), und zwar „eine Art von Gewissenskosmetikern oder moralischen Haarfärbekünstlern, welche unsere scheußliche Welt betrachteten und, siehe, alles war gut.“ (S. 32) Sie verleihen dem Sachzwang die moralische Prokura, mit der seine Autorität politisch-ökonomisch in der sogenannten freien Welt einfacher durchzusetzen ist. Auf diese Beziehung zwischen Bioethik und Sachzwang bezieht sich der Titel „Zu müssen, was man nicht soll“, den Chargaff bekennt, so nur auf Deutsch formulieren zu können (S. 34).
Als Beispiel dafür, was die moderne Naturwissenschaft auch den mit ihr befassten, d.h. von und auf sie zugerichteten Leuten antut, nimmt er den jungen Forscher, der Tiere zu Tode quält, und natürlich weiß, dass man so etwas nicht tun soll. Wie ist er trotzdem zu Tierversuchen fähig, deren mangelnde Aussagekraft ihm genauso bewusst sein müsste? „Mit dem Spezialwissen hat er ein Spezialgewissen erworben“, das ihm beweist, „daß er soll was er muß.“ (S. 36)
Denn der Sachzwang gestattet nicht nur alles, was machbar ist, er macht es auch erforderlich – um jeden moralischen oder finanziellen Preis. Was sind 5 Mio. obdachlose Amerikaner schon gegen das erste transgene Nutztier aus der Petrischale?, wie Chargaff fragt, um die Verlogenheit vom „Wohlstand für alle“ zu unterstreichen, dem eine entfesselte Naturwissenschaft dient:
„Die Politiker aller Länder haben es schon herausgefunden, daß es am billigsten kommt, wenn man die Stummen überschreit und den Blinden die Stöcke verteuert. Daß Sterbende und Verzweifelte nur selten wählen gehen, ist ihnen auch bekannt.“ (S. 33)
In diesen Tagen feiert das als Reaktion auf Tschernobyl gegründete Bundesumweltministerium seinen 30. Geburtstag und lernte gerade mal laufen, als Chargaff und andere u.a. in Scheidewege eloquente Kritik an Technik und Moderne übten. Es hat sich seither etwas getan: Der weiland verseuchte Rhein ist gerettet, von Waldsterben und Ozonloch, die in Scheidewege auf fast jeder Seite drohen, spricht heute keiner mehr (Wer weiß, ob zu Recht…). Aber für jede Umweltschweinerei, die man in den Griff gekriegt hat, haben sich neue, bisher ungeahnte Gefahren aufgetan (allgegenwärtige Polychlorierte Biphenyle, die ozeanischen Müllstrudel, multiresistente Keime usw.), vom nach wie vor ungelösten Atommüllproblem ganz abgesehen.
Dass und wie sehr es immer und immer weiterging und -geht, ist den Sachzwängen zu verdanken, die Chargaff auch selbst ausbuchstabiert: Den Kraftverkehr oder die Naturforschung einzuschränken würde Arbeitslosigkeit bedeuten, darum muss es mit der „Flut der Gifte und Strahlen, die über uns ausgegossen wird“, weitergehen, zumal deren „tödliche Brandung erst spätere, noch ungeborene Generationen treffen wird“ (S. 35).
Die Wähler von morgen entscheiden nicht über die Politik, das tun die Wähler von heute, die meist auch Arbeitnehmer, Autofahrer und Aktienbesitzer sind. „Nur dem Leben selbst ist es noch nicht gelungen, eine unschlagbare Lobby hervorzubringen.“ (S. 25)