Sting sollte sein Lied „Russians“ noch einmal neu einspielen. Er müsste gar nicht viel am Text ändern, um den Zeitgeist zu treffen.
Schreibt einer ein Gedicht, interessiert das niemanden. Heißt der eine Günter Grass, dann wird in den Kulturredaktionen beim Flaschendrehen ein Unglücklicher bestimmt, der das Werk auf Altherrenphantasien und Holocaust-Relativierung hin abklopfen muss. Geht es in dem Gedicht jedoch um Israel, dann muss Alarm gegeben werden und plötzlich geht es im Föjetong zu wie auf der Dresdner Feuerwache am 13. Februar 1945.
Wenn sich alle einig sind, ist Misstrauen angebracht, und wer dermaßen in die Ecke gedrängt wird, zieht deinen Beschützerinstinkt auf sich, da hilft ihm auch kein Nobelpreis. Eine Kampagne gegen ihn, wie Grass sie heute zu erleben glaubt, läuft da nicht; schon bei den letzten beiden Empörungsorgien in den Fällen Wulff und Kracht sah es eher danach aus, als würden die Damen und Herren Redakteure einfach viel zu viel Kaffee trinken und nur noch nach Klicks, Quoten und Auflagen bezahlt werden. Mit Fug und Recht aber darf sich Grass verletzt fühlen durch all das, was ihm da entgegen gebracht wird, und dadurch, dass niemand in der Einheitsfront sich mit dem Inhalt seines „Gedichts“ („Kein Gedicht / reimt sich nicht / reimt’s sich nicht / kein Gedicht“) beschäftigt.
CDU-Generalexperte Hermann Gröhe und der ewige Mißfelder werfen Grass Ignoranz gegenüber den komplexen Verhältnissen im Nahen und Mittleren Osten vor. Gewiss, Israel hat die Atombombe nicht, es bleibt lediglich mehrdeutig („atomare Ambiguität„), so viel Zeit muss sein. Es ist auch extrem unwahrscheinlich, dass Israel seinen Präventivschlag gegen den Iran mit Atomwaffen führen wird – darin sei Grass beruhigt. Selbst wenn, scheint die Annahme, es stünde die Auslöschung des gesamten iranischen Volks bevor, arg überzogen. Viel eher – und darum ist es gut, dass es nicht irgendeiner gesagt hat, sondern einer, den man damit dann auch zur Kenntnis nimmt – besteht die Gefahr, Israel setze in der Annahme, den 6-Tage-Krieg wiederholen zu müssen (und zu können), seine eigene Existenz aufs Spiel. Als die Israelis 1981 den im Bau befindlichen irakischen Atomreaktor Osirak zerstörten, war Saddam zu sehr mit dem Ersten Golfkrieg gegen Iran beschäftigt (seine Reaktion erfolgte erst 1990 im Zweiten Golfkrieg mittels Scud-Raketen gen Israel). Teheran dagegen ist – umringt von US-Militärbasen und seit Jahren wegen seines Atomprogramms diversen Drohgebärden ausgesetzt – ziemlich alert und – Russland, China und Nordkorea machen es möglich – militärisch fit. Daneben gibt es genug taktische und politische Erwägungen, die einen israelischen Angriff auf iranische Atomanlagen schwer bis unmöglich machen. Das muss Jerusalem freilich nicht davon abhalten, ihn trotzdem zu befehlen.
Über sowas liest man wenig in der gegenwärtigen Empörungsmaschinerie, das wäre den Kommentatoren auch zu viel Mühe – allein schon sich mit Äußerungen zu Israel und Iran auseinanderzusetzen, ohne sie von vornherein für antisemitisch zu halten, scheint schon eine geistige Überforderung zu sein. Politikern ist das auch viel zu viel Text und irgendwie unatlantisch. Am Ende scheint’s, CDU-Gröhe wäre dem Nobelpreisträger beigesprungen, hätte dieser vor einem halben Jahrhundert für Atombomben-Strauß und nicht für Kniefall-Brandt Wahlkampf gemacht. Denn ob der Generalsekretär dazu kommt, sich ernsthaft selbst mit dem Gebiet von der Levante bis zum Hindukusch zu beschäftigen, darf bezweifelt werden. Viel eher wird er sein Wissen aus der Pressemappe haben, deren Inhalt in Aufmerksamkeit heischenden Hauptsätzen aus der Wikipedia abgeschrieben ist, die es aus der Tagespresse hat, die von einander abschreibt. Seit 2005 wurde oft genug laut über die schreckliche Möglichkeit einer militärisches Option des iranischen Atomprogramms nachgedacht. „Atomstreit mit dem Iran eskaliert“ dürfte eine der häufigsten Überschriften der letzten zehn Jahre sein und jeder – einschließlich der Medienfritzen – hat es nun schon so oft gehört, dass die auf Israel gerichtete iranische Atombombe als Tatsache gilt. (Mit etwas Geduld und Vertrauen in die selbstverstärkende Medienspirale hätte Powell sich 2003 vor der UN nicht dermaßen zum Horst machen müssen.) Jeder Hinweis auf Beweismangel und Gegenindizien wirkt da schon absurd (Grass nennt korrekt das „behauptete Recht auf den Erstschlag, […] weil in dessen [Irans] Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird.“). Da es um Israel geht, ist Appeasement gleich Völkermord.
Drum die Aufregung darüber, dass Grass seiner Sorge, es könne zum Krieg kommen, in einem Prosagedicht Luft macht. „Aber wir wollen Krieg!“, schreit natürlich keiner aus seiner geschlossenen Gegnerschaft. „Wenn die Iraner Krieg wollen, können sie ihn haben“, klingt besser, und weil implizit klar ist, was das bedeuten wird, darf der Appell nicht fehlen, Israel sei dabei gefälligst zu unterstützen. Dass Broder und Giordano wie seit Jahren schon gegen jeden geifern, der die Gefahren der israelischen Politik bemerkt und den Islam nicht als Grundübel unserer Zeit ansehen will, ist auch in diesem Falle geschenkt. Wie seit Anbeginn der Zeiten haben die alten Herren hüben wie drüben es leicht, einen Krieg zu rechtfertigen, in dem sie nicht selbst kämpfen werden.
Dieter Graumann nennt Grassens Gedicht ein „aggressives Pamphlet der Agitation“ und zeigt, wie wenig er von Textsorten versteht. Muss er auch nicht, er ist schließlich so wenig Germanist wie Grassens Gedicht ein Gedicht oder Pamphlet. Als Vorsitzenden des Zentralrats der Juden darf man ihn aber fragen, ob es wirklich immer das zweitgrößte Fass sein muss, das der Zentralrat aufmacht. Das größte nämlich rollt der israelische Botschafter Emmanuel Nahshon in Berlin auf den Hof, wenn er mit Blick auf Grassens Gedicht feststellt, „dass es zur europäischen Tradition gehört, die Juden vor dem Pessach-Fest des Ritualmords anzuklagen.“
Daneben nehmen sich die übrigen Unterstellungen gegen Grass schon wieder maßvoll aus.
Als vor kurzem noch einmal das Für und Wider einer militärischen Intervention in Syrien diskutiert wurde, schlug Jürgen Todenhöfer und Peter Scholl-Latour ein ähnliches Unmaß an Empörung entgegen, nur wurde ihnen nicht ganz so oft Antisemitismus unterstellt. Todenhöfer und Scholl-Latour haben die öffentliche Meinung mit Sachkenntnis gegen sich aufgebracht, als sie den wenig angenehmen Hinweis wagten, es brächen nicht Frieden, Freude und Vanillepudding in Nahost aus, sobald Assad weggebombt wäre.
Was sie vielmehr immer wieder geduldig zu erklären versuchen und was auch in der Grass-Debatte bedenkenswert wäre: In der Arabischen Liga tut sich neben Qatar besonders Saudi-Arabien bei der Verurteilung des syrischen Diktators hervor. Saudi-Arabien ist als selbstloser Hüter der Menschenrechte weltbekannt und noch schizophrener als der Iran. Ein Königshaus, das wirtschaftlich aufs Engste mit den USA verbunden ist, macht eisenharte Innenpolitik mit Polizei und wahhabitischem Islam. Es finanziert zur Ausdehnung seines Einflusses wahhabitische Koranschulen auf der ganzen Welt, besonders in Regionen, wo US-Truppen und ihre Verbündeten versuchen, die Errichtung von islamistischen Regimen zu verhindern. Daneben pflegt Saudi-Arabien sein Image als islamische Führungsnation durch die Unterstützung des palästinensischen Befreiungskampfs; dessen weiterer Sponsor ist die EU, deren größte Wirtschaftsmacht nicht nur U-Boote an Israel verkauft, was Grass umtreibt, sondern auch Panzer an eben: Saudi-Arabien. („Deutsche Waffen, deutsches Geld / führen Krieg in aller Welt.“) Nämliches hat diverse Probleme, das wichtigste heißt: Iran. Mit ihren Feldzügen seit 2001 haben die USA mit Saddam und den Taliban die Mauern eingerissen, die den iranischen Einfluss im Westen und Osten eingrenzten. Die Saudis sind Sunniten, die Iraner Schiiten, welche im Irak die einst unterdrückte Mehrheit stellen, die Hisbollah im Libanon bilden und dem säkularen Assad in Syrien liebere Verbündete sind als die religiösen Sunniten, deren Aufstand er gerade blutig niederschlägt.
Kurz gesagt: Der 36. Breitengrad gehört in der Region den Schiiten, deren Führungsmacht in Teheran sitzt und nicht vergessen hat, dass alle arabischen Nationen ringsum während des Golfkriegs auf Saddams Seite standen. Jenseits dieser, nuja: „Achse“ betrachten die Sunniten den wachsenden Einfluss Irans mit einer Sorge, die sie mit Israel – das für seine Besatzungspolitik gehasst wird – und den USA – die für ihre komplette Politik gehasst werden – teilen. So kommt es zu der absurden Konstellation Washington – Jerusalem – Riad vs. Beirut – Damaskus – Teheran.
Als Todenhöfer und Scholl-Latour auf diesen Hintergrund aufmerksam machten, ging im Gebrüll der Nachsatz unter, dass der Drops in Libyen nach Gaddafis Tod auch noch nicht gelutscht sei. Wenn die Streitigkeiten zwischen den siegreichen Tyrannenmördern so weitergehen, werden jenseits des Mittelmeers in einem Jahr Zustände herrschen wie im Afghanistan der 90er Jahre.
Was diesen Herren – Grass, Scholl-Latour, Todenhöfer – angelastet wird, sämtliches ad-hominem außer acht gelassen, ist ihr mangelnder Enthusiasmus beim Verurteilen der offiziell anerkannten Bösewichter. Sie zeigen sich allesamt nicht beflissen genug dabei, Assad als Blutsäufer statt Gebrauchtwagenhändlerfresse und Ahmadi-Nezhad als irren Apokalyptiker statt müffelnden Maulhelden abzukanzeln; das irritiert die eingefahrene öffentliche Meinung. (Wenn dann noch Israel im Spiel ist, weiß jeder Grundschüler, auf seine Worte achtgeben zu müssen. Das ist nervig und anstrengend und im Vorfrust sieht sich eines dann schon als Antisemiten oder Tyrannenfreund abgekanzelt, aber das im Voraus zu beklagen ist – hätte er lieber gelassen, der Grass – erst fragwürdig.)
So leicht wie im Hollywood-Film ist es nicht mit Gut und Böse, weder in Syrien noch zwischen Israel und Iran und dem Rest der Region. Es handelt sich bei allen Akteuren um Machtpolitiker, deren Agenda von zwei Zielen bestimmt wird: Erstens die persönliche Macht, zweitens die des eigenen Landes vergrößern. Erstem Ziel dient nichts so sehr wie eine äußere Bedrohung, die es jeder Regierung leicht macht, die Opposition zu unterdrücken und den Rest hinter sich zu einen. Danach kommt die Geopolitik und man begehe nicht den Fehler, Chamenei oder Ahmadi-Nezhad für frömmelnde Deppen zu halten: Wer sich in den Machtapparaten durchsetzen konnte, weiß zu kalkulieren. Das gilt selbstverständlich auch für Netanjahu. Und die anderen. Keiner macht sein Spiel, weil das Risiko unüberschaubar ist – auch dies zu Grassens wenn auch schaler Beruhigung.
Der Nahe und Mittlere Osten ist so instabil wie lange nicht mehr. In Syrien setzt Assad einen Teil seiner Armee gegen die revoltierende Bevölkerung ein. Er ist Irans wichtigster Verbündeter in der Region; derselbe Assad ist zugleich Israels Garant für angespannte Ruhe wenigstens im Norden. Die Annahme ist keineswegs abwegig, dass bei freien syrischen Wahlen ein Parlament zustande käme, das – wie in Ägypten – mit der offiziellen propalästinensischen Haltung Ernst macht und seine Beziehungen zu Israel neu ausrichtet. Spätestens dann würde auch die saudi-arabische Bevölkerung nachdrücklich von ihrem Königshaus wissen wollen, wie dessen Geschäfte mit USA und Israel denn zum Anspruch des islamischen Weltzentrums und zur panarabischen Solidarität mit den Palästinensern passen. Noch einmal, weil es so schön absurd ist: Spring Break, gepanzerte Bulldozer und Pilgerfahrt nach Mekka in einem Boot, das hat schon bin Laden – für den in Teheran aber auch nur Häretiker saßen – „irritiert“.
Es liegt im Interesse aller Machtpolitiker, Konflikte köcheln, aber nicht überkochen zu lassen. Denn sie alle haben die Lektion der Oktoberrevolution gelernt und wissen, wie schnell sich die Einheit eines Volks, die ein Krieg schafft, gegen die Staatslenker wenden kann, wenn der Krieg nicht so läuft wie geplant. Dem saudischen Regime sind die vom ölabhängigen Westen unhinterfragt geteilten Feindbilder Iran und Syrien also mehr als recht.
Über die von innenpolitischen Protesten gegen die soziale Ungleichheit im Lande geplagte israelische Regierung ließe sich ähnliches behaupten, bestünde für Israel nicht die Gefahr, in dem Krieg, der hoffentlich nicht nur Grass Alpträume macht, überrannt zu werden. Diese israelische Furcht ist verständlich, aber Angst war noch nie ein guter Ratgeber. Drum ist jedes Wort, das Israel von einem Alleingang abhält und euch künftigen Fußnoten klarmacht, dass die Lage der Dinge nicht so einfach ist, wie ihr’s gerne hättet, richtig.
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