Wie Alaska – nur ohne Eisbären

Morgens musst du erstmal die hiesigen Wege freischaufeln. Natürlich sind die verschneiten Straßen hier draußen nicht im geringsten geräumt: Selbst wenn hier viele Leute wohnen würden, es ist fast niemand mehr unterwegs. Wie in Alaska sieht’s hier aus.
Auch das Auto ist eingeschneit, aber du hast mit steigender Laune gekratzt, denn ein Ende dieser ganzen Maloche steht an: Zwei Wochen lang musst du keine Menschenseele sehen – Weihnachtspause!

Am Vormittag artete das morgendliche Schneeschieben etwas aus. Du hattest dir volle Winterausrüstung angelegt, Signalweste, Mundschutz mit Schal drumzu und Skifahrer-Sonnenbrille, und überquertest kurzerhand den Deich, um dir das Watt anzugucken.

Ein Reh stakte mühsam über einen schneebedeckten Acker. Es könnte das Reh sein, das in den letzten Tagen immer wieder bei dir auftaucht und dem du deinen restlichen Salat in den Schnee gelegt hattest. Auch hier mischten sich Sorgen in die Freude: Es ist alleine unterwegs – haben die Scheißjäger etwa seine Gefährten abgeknallt? Und wie kommt man als Reh bei dieser Saukälte überhaupt zurecht?!

Durch den starken Wind hatten sich inzwischen überall große Schneewehen aufgetan, die andere Deichseite war nahezu leergefegt, nur noch Eis auf dem Asphalt. Und weit und breit nicht nur kein Mensch, sondern überhaupt nichts Lebendes mehr zu sehen. Du konntest aber auch nicht weit gucken. Der Schnee peitschte recht dicht herab und dir froren ständig die Brillengläser zu. (Es hat derzeit –10° C…)
Du liefst ziemlich weit mit dem Wind im Rücken, ehe dir der nicht unvernünftige Gedanke an den Rückweg kam. Dabei schlug dein Herz dann doch heftiger. Denn wenn einem der Sturm den Schnee ins Gesicht bläst, wird es ein anstrengender Spaziergang durchs Nichts. Zwischendurch fragtest du dich, wie lange es dauern würde, bis hier jemand deine Leiche findet. Schließlich ist in den nächsten Tagen kein Tauwetter angesagt und angesichts der Wanderdünen aus Schnee, die sich über jedem Steinchen aufhäuften, wären deine Überreste wohl für Wochen verschwunden. Schöner Tod: Sterben wie ein Mount-Everest-Kletterer – aber in Ostfriesland, direkt vor der Haustür.

Du fandest und verfolgtest Rehspuren im Schnee; hoffend, sie stammen von mehreren und nicht nur von einem Tier, das alleine, hungrig und verängstigt durch die eisigen Nächte hin und herstapft. Hinterm Deich hatte der Wind eine inzwischen meterhohe Schneewehe aufgetürmt, durch die der Deich wie eine erstarrte, weiße Flutwelle aussah. Fast wärst du darin versunken – wieder so eine Schrecksekunde, in der sich die Natur als im Wesentlichen unerbittlich und tödlich in Erinnerung ruft.

Aufwärmen mit Suppe, während im Radio Katastrophenmeldungen aus dem vereisten Europa verlesen werden. Krass wäre es, wenn der Golfstrom nun doch tatsächlich abgerissen ist und das Wetter hier jetzt immer so bleibt. Wie lange es wohl dauern würde, bis die ersten Eisbären die Strandkörbe auf den Inseln kapern?

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