Eine Liebeserklärung (aus dem Archiv; verfasst kurz nach Gründung des Lichtwolf im Sommer 2002)
Ein Gespenst geht um in der Welt – das Gespenst der Wirtschaftlichkeit.
In dieser vor Schreck gelähmten Welt wird schon gar nicht mehr gefragt, ob die Geisteswissenschaften noch sinnvoll sind. Die Antwort scheint für die, die an den Hebeln aus Rotstiften sitzen, schon längst festzustehen. Es gibt Protest gegen diese Lage – aber keiner hört ihn oder weist ihm irgendeine Bedeutung zu.
Das ist so, weil angebliche Forderungen „der Wirtschaft“ ins Rückenmark der Gesellschaft gesickert sind: Das hastige Kosten-Nutzen-Rechnen steckt so tief und allgegenwärtig in den Köpfen wie das Ursache-Wirkung-Prinzip. Wer keine Zeit oder Not hat, genauer darüber nachzudenken, der akzeptiert das Bild von den Geisteswissenschaften: Ein Hobby von großen Kindern, die sich nicht den „Marktanforderungen“ anpassen wollen. Ein Hobby, das viel zu viel kostet, obwohl ja keiner Geld hat, und das sich – noch viel, viel schlimmer – nicht gut verkaufen (angeblich), sondern gerade noch wegrationalisieren lässt.
Doch die wahre Unwirtschaftlichkeit liegt auf lange Sicht gerade in diesem Primat des rein profitorientierten Marktes, der die Geisteswissenschaften als unrentable Kostenstelle lieber früher als später einschrumpfen will. Warum ist das so?
Die Mutter aller Wissenschaften, die älteste überhaupt, die Philosophie, wird geradezu ausgehungert.
Ihre Projekte sind offenbar niemals vollendet, ihre ältesten Fragen offenbar noch immer ungelöst. Aber gerade das macht diesen Motor des Erkenntnisfortschritts aus! Daß sie keine Antworten liefert, macht sie nicht überflüssig, nicht nur weil sich die Menschen nunmal ihre Fragen stellen. Indem sie immer wieder neue Fragen aufwirft und sich mit keiner Lösung zufrieden gibt, erweitert sie das Fundament allen Fortschritts. Rückt die Antwort auf eine Frage der Philosophie in greifbare Nähe, so wird das Problem an eine andere Wissenschaft abgegeben oder die Philosophie gebiehrt eine neue Disziplin. Niemand glaubt, Physik, Psychologie oder Linguistik wären einfach vom Himmel gefallen!
Die Philosophie – an vorderster Front – mit allen bürokratischen Mitteln zu verkrüppeln und das auch noch mit wirtschaftlichen Gegebenheiten begründen zu wollen ist aus einer Perspektive, die jenseits einer Legislaturperiode liegt, widersprüchlich, was in der Politik leider oft genug ein Grund, aber kein Hindernis ist.
Die Menschheit hat einen Bedarf nach den Geisteswissenschaften. Gibt es auch Dinge, für die kein Bedarf besteht? Kann es sowas geben in einer so wirtschaftlichen Gesellschaft?
Solche Sachen wie „Career Centers“. Sie erzeugen den Bedarf nach ihren Leistungen selbst, nämlich durch und innerhalb der allgegenwärtigen Wirtschaftlichkeits-Paralyse. Für sie und ihre Leistungen, nämlich das Bereitstellen von „Karriere-Sprungbrettern in die Wirtschaft“, wird Werbung gemacht. Werbung hat ja gerade den Sinn, daß sie die Leute davon überzeugen soll, sie müssten etwas haben wollen, was sie gar nicht brauchen. Zum Beispiel hohe Einstiegsgehälter, Dienstwagen, Aktienoptions-Programme und eine Menge wirtschaftlicher Verantwortung. Das Primat der Wirtschaftlichkeit ist das Rückgrat dieser unsichtbaren, allgegenwärtigen Werbung.
Sollen die Geisteswissenschaften, um sich zu retten, nun auch Werbung machen? Konkurrenz belebt das Geschäft? Nein, es wäre ja das Eingeständnis, daß nach ihnen auch kein Bedarf besteht.
Ferner kann es eine Konkurrenz nur zwischen Anbietern geben, deren Produkte sich ähnlich sind.
Die verbreiteten Vorurteile gegenüber den Geisteswissenschaften gilt es zu beseitigen und dafür brauchen wir eine Lobby. Wir brauchen Aufmerksamkeit. Für mehr Ingenieure und Computerspezialisten sind ja alle, die etwas zu sagen haben. Umso erstaunlicher ist es, wenn Bundeskanzler Schröder zu Ostern ein Buch von Gadamer bekommt und das auch noch erzählt. Eine zukünftige Gesellschaft ohne Geisteswissenschaften will ja keiner haben!
Wir müssen Bewegung in diese Sache kriegen: Es sind sich alle einig darüber, daß etwas schiefläuft, nur es unternimmt niemand etwas dagegen. Sind wir so eingeschüchtert von dem Gespenst?
Die Not der Geisteswissenschaften, aber auch unsere Hingabe und Begeisterung von ihnen müssen öffentlich gemacht werden. Wir müssen unseren Platz im Bewusstsein der Gesellschaft zurückerobern. Dies ist nur möglich, wenn wir die herrschenden Vorurteile zerstreuen, indem wir der Werbung der reinen Wirtschaftlichkeit etwas entgegenzusetzen haben. Darum raus aus der Reserve, raus mit den Gedanken, die das angeblich unrentable „Produkt“ unserer Geisteswissenschaften sind!
Was und wie wir schreiben müssen: Nicht für Geisteswissenschaftler, sondern für die Menschen. Damit müssen wir die bunten Plakate mit jungen, dynamischen Wirtschafts-Wunderkindern übertönen.
Das soll unsere Antwort auf den Bildungs-Notstand sein. Sie wird effektiver als jede halbherzige Maßnahme sein, weil sie aus ganzen und aufrichtigen Herzen entspringt.
Denn was macht man nicht alles aus Liebe?
Menschen machen sich lächerlich, bringen sich in Lebensgefahr, vollbringen die kühnsten Dinge und opfern sich auf! Zugegeben, manche können auch vor Liebe blind werden.
Die Philosophie ist die Wissenschaft, die am meisten Zuneigung verdient hat und geben kann. Eine Wissenschaft, deren wichtigste Beschäftigung es ist, sich selbst in Frage zu stellen – diesen Mut hat keine andere.
Emotionen sind in allen Geisteswissenschaften wesentlich. Die Sprachwissenschaften werden aus dem Bedürfnis nach kulturellem Austausch und Verständigung betrieben, die Literaturwissenschaften berichten auf einzigartige Weise von der Freude und dem Leid, die Geschichte von großen Fehlern und großen Taten.
Alle Geisteswissenschaften können nur aus Zuneigung betrieben werden, nicht aus Pragmatismus oder wirtschaftlichen Interessen. Geisteswissenschaftler kann man nicht fragen „Wozu?“. Es gibt bei uns keinen Zweck, sondern in erster Linie einen Grund, und dies ist ein persönlicher und zutiefst menschlicher. Denn ausnahmslos alles in den Geisteswissenschaften läuft auf den Menschen hinaus.
Überdies sind die Geisteswissenschaften der Zweck. Die Menschen erforschen diese Welt nicht, um Geld zu scheffeln, sondern um nach Aufrichtigkeit zu suchen. Man erhält durch die Geisteswissenschaften nicht automatisch einen Beruf: Man ist zu ihnen berufen.
Deshalb aber dürfen wir uns auch nicht im Kreis um uns selbst drehen. Unsere Zuneigung gebietet doch auch, daß wir die Geisteswissenschaften wachsen und sich entwickeln sehen wollen. Die Gesellschaft ist schon immer von den neuen Ideen der Geisteswissenschaften geprägt worden. Wir dürfen uns dieses Heft nicht aus der Hand nehmen lassen, wenn wir die Menschheit und ihre ideellen Werte nicht verschachern lassen wollen. Wir müssen den Schreck überwinden und vor allem den Fatalismus, der uns glauben macht, das System, die Gesellschaft, der Kapitalismus oder was auch immer seien unantastbar. Das Primat der Wirtschaftlichkeit stößt uns nicht einfach zu wie eine Naturkatastrophe!
Wir müssen unsere Zuneigung, unsere Liebe anerkennen lassen – und zwar als eben so gerechtfertigte Begründung für ein Studium wie bloßen Pragmatismus.
Die Auffassung, Arbeit solle keinen Spaß machen, sondern dürfe nur mit Überwindung verbunden sein, entspringt gerade der Frustration, die sich angesichts der Entwicklung breitmacht. Die bloße Orientierung an der Wirtschaftlichkeit verschafft uns „Powertypen“ mit „Burnout-Syndrom“ und „Downshifting“-Sehnsüchten. Performanz statt Aufklärung, Ausbildung statt Bildung führt zu einer Massenversklavung, die geschickterweise auch noch freiwillige Züge hat! „Anpassung an den globalisierten Arbeitsmarkt“.
Sicherlich: Erst das Fressen, dann die Moral, was auch für hoffnungslos verschuldete Gesellschaften wie die unsere gilt. Doch schon Heidegger wusste zu orakeln, wohin diese Entwicklung am Ende führt. Nämlich nicht in die Überwindung einer wirtschaftlichen Talsohle, sondern in eine endgültige Langeweile, in der die Geistes- zu den Zeitungswissenschaften geworden sind.
Was, wenn wir nicht alleine sind mit unserer Ablehnung nicht nur dieser Entwicklung, die offenbar alle zumindest beunruhigend finden, sondern mit unserer Ablehnung dieses Systems? Was, wenn wir nicht die einzigen sind, die das Primat der Wirtschaftlichkeit bedingungslos ablehnen?
Wir als Geisteswissenschaftler sollten aufhören, über Kürzungen zu jammern, sondern den Menschen zeigen, wofür wir da sind. Wir müssen der Welt klarmachen, warum wir unverzichtbar sind und warum wir wenigstens am Leben erhalten werden müssen. Wir müssen begreiflich machen, daß dreitausend Jahre Geistesgeschichte noch immer nicht genug sind – daß es eine Fortsetzung im Heute und Morgen geben muß. Es geht nicht darum, daß wir Leistungen nachweisen, die sich in Diagrammen mit denen von beispielsweise Ingenieurswissenschaften vergleichen lässt. Das geht schon vom Wesen dieser Wissenschaften gar nicht und wer sich auf solche „Evaluationen“ beruft, macht sich den Ausverkauf der Menschlichkeit zu leicht.
Es geht für uns darum, zu der Liebe zu stehen, die uns in die Geisteswissenschaften geführt hat. Es gilt, dieses Feuer in allen Menschen wieder zu entfachen.
Mehr Geld und Professuren zu fordern ist unrealistisch, solange die aussichtsreichere Forderung nach Anerkennung unserer Liebe unerfüllt bleibt.
Mag sein, daß es nicht alle Menschen interessiert. Aber es geht alle an.
Darum geht hinaus und zeigt der Welt, was die Geisteswissenschaften sind! Lasst sie eure Arbeit und eure Hingabe spüren, auf daß niemals mehr irgendjemand ökonomische Meßlatten an uns zu legen wagt! Sagt solchen armen Teufeln ins Gesicht: „Beurteilt uns nicht nach unserem Verkaufswert!“
Wir haben eben nicht unser bequemes Hobby zu verteidigen, sondern einen Humanismus, der den Wert eines Menschen nicht an seiner Leistung festmacht! Wirtschaftlichkeit kennt weder Güte noch Anmut. Treiben wir dieses Gespenst aus, es muß möglich sein!
Wir haben nun gesagt, wofür und wogegen wir kämpfen, aber noch nicht ausdrücklich, warum wir das tun. Dieser Grund ist vielleicht nicht der älteste, aber der edelste: Wir kämpfen aus Liebe.
Geisteswissenschaftler aller Länder vereinigt euch!