In einem für seine Verhältnisse ganz und gar nicht durchgeknallten Text dachte Slavoj Žižek vor gut zwei Wochen darüber nach, was das grassierende Virus euch zu lehren hätte. Zunächst widerspricht er Giorgio Agambens reduktionistischer Verschwörungstheorie, die Pandemie sei nicht nur autoritären Staatschefs ein willkommener Anlass zum Ausnahmezustand. Russland und Ungarn mögen da mit schlechtem Beispiel vorangehen, und man muss nicht Agambens Paranoia teilen, um dabei mitreden zu wollen, welche staatlich verordneten Maßnahmen noch verhältnismäßig und verfassungsgemäß sind – aber Žižek fragt all die einschlägigen Youtube-Experten mit Recht:
„Liegt es wirklich im Interesse von Kapital und Staatsmacht, eine globale Wirtschaftskrise auszulösen, damit ihre Herrschaft erneuert werden kann?“
…und blickt dann lieber auf das Rettende, das in der Gefahr auch wächst: Solidarität, Vertrauen in einen starken Staat, der zupackt, wenn es Not tut, und eine „philosophische Revolution“. Denn es lohnt sich, den Verstand auch dann auf Viren zu lenken, wenn sie nicht gerade Christian Lindners Aktiendepot bedrohen. Glück im Unglück: Viele Leute haben in diesen Tagen nichts Besseres zu tun, als über Viren nachzudenken – ob mit Hegel und Schelling oder ohne – und also darüber, was Leben heißt und was tot ist. Žižek hat vielleicht dieses Kurzgesagt-Video über die Paradoxie gesehen, dass die Teile, aus denen lebende Zellen bestehen, ihrerseits so wenig lebendig sind wie Steine:
Das Virus ist die Information seiner selbst
Viren sind komplizierter aufgebaut als Steine, aber auch nicht viel lebendiger. Es handelt sich um komplexe Moleküle, die mit anderen komplexen Molekülen im Innern von Zellen reagieren und dabei Kopien von sich machen. Naheliegenderweise kommt da nicht nur Žižek die Mem-Theorie von Richard Dawkins in den Sinn, wonach sich auch menschliche Informationen ähnlich denen verbreiten, die in einem Virus gespeichert sind, d.h. die mit ihm identisch sind.
Mögen Bewusstseinsinhalte auch durch Tröpfen- und Schmierinfektionen im weitesten Sinne übertragen werden und mit ihrem Wirt verschwinden, wenn sie es nicht in einen neuen schaffen, so haben in dieser Analogie doch diejenigen keinen Platz, die aus der (Re-)Produktion und Verbreitung von Bewusstseinsinhalten ein Geschäftsmodell gemacht haben.
Fünf Ecken Abstand
Wer in diesen Tagen nichts Besseres zu tun hat, als über Viren nachzudenken, kann Covid-19 auch als Beleg des Kleine-Welt-Phänomens verstehen. Nimmt man mit Robin Dunbar an, jeder Mensch könne zu maximal 150 anderen soziale Beziehungen unterhalten, ist man rein statistisch über höchstens fünf Ecken mit jedem lebenden Menschen auf dem Planeten (einschließlich Kevin Bacon) bekannt.
150 × 150 = 22.500
22500 × 150 = 3.375.000
3.375.000 × 150 =506.250.000
506.250.000 × 150 =75.937.500.000
Ausgehend von einem Fischmarkt in der Mitte Chinas hat sich Covid-19 mit Zwischenstationen u.a. in Seminarräumen eines Autozulieferers, Karnevalsveranstaltungen und Tiroler Ski-Pisten über die ganze Welt verbreitet. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn das Virus auf eine „soziale Beziehung“ zwischen dem bisherigen und dem nächsten Wirt angewiesen wäre. Die Pandemie beweist somit nicht, dass jeder Infizierte den chinesischen Schuppentierverchecker als mutmaßlich Patienten Null über höchstens fünf Ecken persönlich kennt.
Mit Memen oder dem Kleine-Welt-Phänomen hat sie nur scheinbar zu tun. Eher noch hat die Pandemie etwas von einer Weihe. Nach der apostolischen Sukzession hat Jesus seine Jünger geweiht, darunter Petrus als den ersten Bischof von Rom. Der Papst weiht die Bischöfe, die Bischöfe weihen die Priester, sodass jeder Einzelne die Hand Jesu – wenn auch schwerstens vermittelt – auf der Schulter hatte und dadurch die Superkraft erwirbt, Brot in den Leib Christi zu verwandeln. Die Nazi-Parodie auf solchen Aberglauben war die „Fahnenweihe“, bei der Partei- und SS-Wimpel durch Berührung mit der „Blutfahne“ pseudosakralisiert wurden, die Hitler (angeblich) bei seinem gescheiterten Putsch 1923 dabei hatte. Dergestalt geweihte Lappen wurden nach dem Parteitag in die Gaue zurückgeschleppt, wo dann wiederum jedes HJ-Wimpelchen mit ihm gekreuzt wurde, bis auch der letzte Hakenkreuztischaufsteller im Reich „a touch of 1923“ hatte.
In diesen Tagen nun empfangen selbst Veganer am anderen Ende der Welt die fragwürdige Weihe eines chinesischen Tiermarkts.
1 Gedanke zu „Infektion als Sakrament“