Jeder Grund für Eskapismus ist auch einer für trotzigen Widerstand, gleichwohl hat jeder Verständnis verdient, der sich nach einer solchen Woche (Thüringen, Corona, irgendwas mit Fußball) zu Hause einschließt und über den Bildschirm in ganz andere Welten flüchtet. Diese werden in Computerspielen immer seltener, je realistischer es zugeht – was auch immer das heißt.
Elite: Dangerous
Vor einem Monat sorgte Beteigeuze für Schlagzeilen. Die etwa 650 Lichtjahre entfernte „Schulter des Orion“ leuchtet so schwach wie nie zuvor, was Astronominnen als Anfang vom spektakulären Ende des Riesensterns gilt. „Demnächst“ – in kosmischen Maßstäben also irgendwas zwischen „morgen“ und „in 100.000 Jahren“ – würde Beteigeuze als Supernova explodieren und wochenlang mondhell am Firmament stehen, von dem der nur sogenannte „Fixstern“ danach für immer verschwunden sein wird. Auch wenn die FAZ zwischenzeitlich Entwarnung gab, konnte es einem beim nächtlichen Warten auf den großen Knall doch melancholisch ums Herz werden.
Glücklicherweise wird sich Beteigeuze auch dann noch in Augenschein nehmen lassen, wenn der Stern nun doch demnächst platzt. Mit „Elite: Dangerous“ ist ein Klassiker der Computerspielgeschichte 2014 (30 Jahre nach dem Debut) in zeitgemäße Technik überführt worden. Die Spielwelt ist gute 1.300 Jahre in der Zukunft, aber doch ganz nah an der Wirklichkeit, denn sie besteht aus den 400 Milliarden Sonnensystemen der Milchstraße. Der Bruchteil, der aus Sternbildern und astronomischen Katalogen bekannt ist, findet sich an Ort und Stelle, alle anderen werden nach den astrophysikalischen Regeln erstellt, die sich ziemlich leicht in Programmcode übersetzen lassen. Das Weltall wird dadurch zum realistischen Spielplatz, der vor allem aus einem gigantischen leeren Raum besteht, in dem man selbst große Planeten ohne Navigationsgerät nicht findet – von Raumstationen ganz zu schweigen.
Beteigeuze lohnt den Besuch in „Elite: Dangerous“, weil es sich in Wirklichkeit und Spiel um einen der größten bekannten Sterne handelt, der hier wie da noch leuchtet. Von den Paradoxien überlichtschneller Reisen sei hier geschwiegen: 650 Lichtjahre legst du mit deinem schnellsten Schiff in zehn Hyperraumsprüngen binnen Minuten zurück und noch nie hast du einen leuchtenden Stern angepeilt, um dann bei dem schwarzen Loch anzukommen, zu dem er schon vor 50 oder 500 Jahren kollabiert ist. Apropos: Selbst das supermassereiche schwarze Loch Sagittarius A* im 26.000 Lichtjahre entfernten Zentrum der Galaxie ist bei „Elite: Dangerous“ bloß eine stumme Gravitationslinse und unrealistisch ungefährlich; bleibt zu hoffen, dass diese Dinger nach einem künftigen Update von der alles vaporisierenden Akkretionsscheibe umgeben sind, die am Ende von Raum und Zeit zu erwarten ist.
Grand Theft Auto Online
Das jüngste Update von „Grand Theft Auto Online“ (noch so einem Klassiker auf dem neuesten Stand der Technik…) brachte u.a. wieder einen Reigen neuer Autos mit sich, darunter den Opel Corsa C, der hier freilich Maxwell Asbo heißt. Die computerspielaffinen Mitglieder der Generation Z haben nun die Möglichkeit, ihr erstes echtweltliches Auto lange nach seiner Verschrottung durch die gelungenen Nachbildung von Los Angeles zu steuern. Unrealistisch ist da nur der Preis: Bei eBay gibt es den altersbedingt nur noch gebraucht zu erwerbenden Corsa C für durchschnittlich 1.500 €, in „Grand Theft Auto Online“ muss man über 300.000 $ Spielgeld für ein Auto hinlegen, das albern aussieht, langsam ist und sich schlecht fährt. Trotzdem ist der Maxwell Asbo beliebt, und zwar aus den erwähnten sentimentalen Gründen.
Die Akkuratesse von GTA ist bereits hier und an vielen anderen Orten zur Genüge gelobt worden. Nicht nur wird in der offenen und lebendigen Spielwelt die US-amerikanische Kultur „zur Kenntlichkeit entstellt“. Markante Punkte der realen Topographie werden so trefflich in den Maßstab übersetzt, der mit gegenwärtiger Heimrechnerleistung zu schaffen ist, dass jeder mit genug GTA-Spielstunden beim Spaziergang durch Los Angeles (etwa mit Google Maps) sofort weiß, wo diese oder jene Ecke sich in der Spielwelt Los Santos / San Andreas befindet.
Sören Schoppmeier verfolgt in einem Beitrag bei Hypotheses den Gedanken, GTA bilde nicht einfach nur sehr gut nach, sondern nehme entsprechend Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie gestaltend an der kulturellen Welt teil. Das ist durchaus plausibel bei einem Spiel, das sich bis November 2019 rund 115 Millionen Mal verkauft hat und wahrlich nicht nur von Teenagern gespielt wird. Schoppmeier erklärt das so:
„Der Erfolg von Grand Theft Auto, ihre Spielorte so überzeugend zu gestalten, basiert weitestgehend auf ihrer Bezugnahme auf vorige Repräsentationen dieser Städte sowie auf dem Ansatz, sie eher symbolisch, statt kartographisch akkurat, zu replizieren.“
Das fiktive Los Santos kommt einem wie das echte Los Angeles vor, weil es sowohl Straßenzüge und Wahrzeichen nachbildet als auch an kulturelle Nachbildungen der Stadt anknüpft und diese reproduzierend in den Diskurs einspeist. Michael Manns „Heat“ von 1995 lässt sich in GTA Ort für Ort nachspielen, die aktuellen Musikvideos von Lana del Rey wiederum könnten auch das Spiel als Kulisse haben.
Wo bleibt der Eskapismus?
Der Realismus von Computerspielen steht nicht im Widerspruch zum eskapistischen Zerstreungsbedürfnis der Zocker. Die Welten sind nah und fern zugleich, vertraut genug und fremd genug, um die echte Welt, wie sie ist, im Namen dessen, wie sie sein soll oder könnte, zugleich zu verneinen und zu bejahen.
Natürlich kann man die doofe Frage stellen, warum eins seine spärliche Lebenszeit mit „Elite: Dangerous“ oder GTA zubringt, anstatt Astronaut zu werden oder Los Angeles zu besuchen. Weil es faszinierend und nervig ist, darum.
Interessanter ist die Frage, ab und bis zu welchem Realismusgrad Computerspiele überhaupt Spiele sind, und ob sich ihre vorhandenen Nicht-Orte erschöpfend auf das ohnehin schwache utopische Potential des Menschen auswirken.