Lebe lang und stirb aus

Wenn die ZEIT wie im Spätsommer des ausgehenden Jahres die Seenotrettung in Frage stellen kann, ist auch die Notwendigkeit eines Fortbestands der Menschheit diskutabel, zumal sich das zum Ende diesen wie jeden Jahres atemberaubend und lautstark aufdrängt – mitunter konzentriert in einem einzigen Tweet.

Nico Lange (CDU) leitet laut Wikipedia seit Mitte April 2018 in seiner Partei die Abteilung „Planung“, die unter anderem für Redenschreiben und die Beobachtung politischer Gegner zuständig ist. Er verlautbarte auf Twitter jüngst diesen genau so gemeinten Stoßseufzer der von der Ächtungs- und Verbotskultur bedrängten Kreatur:

 

Im nach wie vor aktuellen Lichtwolf (weil die Winterausgabe seit drei Wochen in der Druckerei festhängt) hast du dich u.a. mit dem Rassismus und Klassismus in den 250 Jahren Überbevölkerungsdiskurs seit Thomas Malthus beschäftigt („Wie viele sind zu viele – und wenn ja, wer?“, LW63, S. 56-63). Überwunden scheint die Heimtücke, die jeder Biopolitik innewohnt, erst im Antinatalismus, wie ihn Théophile de Giraud mit geradezu rührendem Humanismus vertritt.

Das 1992 in den USA gegründete „Voluntary Human Extinction Movement“ (VHEMT), dessen Frankreichsprecher Giraud ist, wünscht ausnahmslos allen Menschen, die da sind, (auch den Nico Langes) ein langes und glückliches Leben. VHEMT lehnt Mord und Selbstmord ebenso ab wie die Werbung für den Schwangerschaftsabbruch oder gar biopolitische Zwangsmaßnahmen; stattdessen wird für den freiwilligen Verzicht auf Fortpflanzung und das sanfte Aussterben der Menschheit plädiert. Girauds zentrales Argument für diesen Antinatalismus ist die doppelte Unzumutbarkeit des Lebens: Weder sind dem Planeten immer mehr Menschen zuzumuten noch diesen Neugeborenen ein Leben ohne lebenswerte Zukunft auf einem verheerten Planeten.

Damit ist noch nicht einmal die altgriechische Weisheit berührt, das Beste sei für den Menschen, nicht geboren zu sein, das Zweitbeste, jung zu sterben. Sie hallt über Schopenhauer hinaus bis zu Ulrich Horstmann, der in „Das Untier“ (1983) aus der unauflösbaren Verbindung von Leben und Leiden die Pflicht des Menschen ableitete, sich und jedes andere Lebewesen auf Erden durch den Einsatz sämtlicher ABC-Waffen ein für alle Mal zu erlösen.

 

Ist es das wert?

In der Philosophie-Kolumne „The Stone“ der New York Times wägte Todd May eine Woche vor dem Jahrestag der vergeblichen Menschwerdung des christlichen Gottes den intellektuellen Wert der Menschheit gegen das von ihr verursachte Leid und Elend ab.

May beharrt implizit auf einem Eigenwert menschlicher Wissenschaft und Künste, um das Argument zu entkräften, ihr Verlust würde niemanden schmerzen, verschwände auch die ganze Menschheit mit ihr. Dabei hilft ihm der Trick, die Frage umzudrehen: „How many human lives would it be worth sacrificing to preserve the existence of Shakespeare’s works?“ Das ist eine gute Frage, aber nicht die danach, ob es eine Tragödie wäre, stürbe die Menschheit aus.

Brad Pitt regt in „Twelve Monkeys“ (1995) die gute Frage an, um die es ebenfalls nicht hier geht: Hat die Menschheit es verdient, ausgelöscht zu werden? (Bild: memegenerator.net)

Menschliche Wissenschaft und Künste müssen via Eigenwert aus dem Spiel genommen werden, weil May bloß utilitaristisch argumentiert. Nun lässt sich über den Utilitarismus trefflich schimpfen als die Schrumpfmoral, die sich eine gründlich durchökonomisierte Menschheit noch leisten zu können glaubt. Allerdings steht auch er, wenn man ihn nur konsequent sein lässt, dem Weiterso irgendwann im Wege. Peter Singers „Prinzip der gleichen Interessensabwägung“ etwa legt Nico Langes Furcht, mit dem Bus zum zentralen Feuerwerk seiner Kommune fahren und dort ein schönes Falafel essen zu müssen, und die mit ihrem Bewusstsein gegebene Leidensfähigkeit der Tiere auf eine Waage. Erstere wird zu leicht befunden gemäß der utilitaristischen Maxime, Glück zu maximieren und Leid zu minimieren. (Konzis dargestellt in LW39 durch den blinden Hund – was macht der eigentlich?)

Am Ende sieht auch Todd May es in der NYT ein:

„There is just too much torment wreaked upon too many animals and too certain a prospect that this is going to continue and probably increase; it would overwhelm anything we might place on the other side of the ledger.“

Nichts desto trotz hat die Menschheit es nicht verdient, noch bei ihrem – im Erfolgsfalle: letzten – Versuch, sich selbst zu erkennen, über das utilitaristische Urteil nicht hinauszukommen, dass sie sich einfach nicht rechnet.

 

Kann man aussterben wollen?

Erzengel in der Kuppel des Baptisterium San Giovanni in Florenz (1225) als Teil der neun Engelsschöre (Photo: Unbekannt, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21549651)

Was für ein Zumutung an Banalität wäre es, würde bei dem Prozess, der der Menschheit niemals gemacht werden wird, die vom zum Pflichtverteidiger bestellten Michael eingespielte Neunte von Beethoven lässig durch den Chefankläger Gabriel gekontert mit dem ausgedruckten Tweet von Nico Lange? Am Ende stünde neben dem Schuldspruch in allen Anklagepunkten die vollständige Rehabilitierung von Luzifer / Iblis, weil ihm wahrhaft nicht zuzumuten war, sich vor diesem aus Lehm geschaffenen, mörderischen Ebenbildwesen niederzuwerfen.

Ist es klug und gerecht, dass die Nico Langes dieser Welt das, was ihnen in der herrschenden Ordnung an Potential zum Menschsein vorenthalten wird, mit Freuden kompensieren, deren jenseits ihres Gesichtsfelds externalisierte Folgen einen vor der Scham erstarren lassen, „daß einem in der Hölle noch die Luft zum Atmen bleibt“ (Minima Moralia, 7)? Gebieten Mäßigung und Tapferkeit es nicht vielmehr, die Fresserei und den Lärm auf das Nötigste zu beschränken und den übermotorisierten Faradayschen Käfig zu verlassen, in dem sich die Nico Langes dieser Welt vor dem Sublimen und Numinosen verschanzen, das da draußen seiner beiläufigen Zerstörung harrt?

Der Papst, der sich nach demjenigen Heiligen benannt hat, der den Tieren und Pflanzen als Mitgeschöpfen predigte, schrieb den Christen mit seiner Enzyklika „Laudato Si“ 2015 ins Stammbuch, für den gemeinsamen Oikos zu sorgen und ihn geschwisterlich mit Gottes Schöpfung zu bewohnen. Verhütung hilft dabei jedoch nicht, sondern Glaube, Liebe, Hoffnung – und da die dem Wirtschaftswachstum zuträglich sind, ist für Nico Lange und CDU/CSU wieder alles in gesalzener Butter, zu je 20 g in Plastik portioniert. Der Papst muss eben auch an sein Geschäftsmodell denken, das auf der Trias von Menschen, Leid und Ungerechtigkeit basiert und das genaue Gegenteil der dadaistischen Church of Euthanasia ist, die unter dem Motto „Save the planet – kill yourself“ für Selbstmord, Abtreibung, Kannibalismus und Sodomie wirbt.

 

Protestantische Pflichtethik auf den Punkt gebracht: „Nun sieh dir die Scheißkatholiken an: Setzen Scheißmenschen in diese Scheißwelt, die sie scheiße nochmal nicht sattmachen können!“ (Monty Python, „Der Sinn des Lebens“, 1983)

Bleiben nur noch Fragen einer Pflichtethik, die in der herrschenden Ordnung wie eine Geisteskrankheit wirken muss.

Kannst du wollen, dass die Spezies, der du angehörst, ausstirbt? Nicht, wenn es in einem gewaltsamen Akt geschieht – weshalb sich VHEMT richtigerweise gegen sämtliche (völlig verständlichen) Vernichtungsphantasien ausspricht.

Kannst du wollen, dass man Menschen verbietet, Kinder zu zeugen? Nicht, wenn man den katholischen Zwang, Kinder unter allen Umständen auszutragen, ablehnt. In der Biopolitik darf kein Zwang herrschen, weil sie den Kern der Menschenwürde berührt. VHEMT macht niemandem das Kind zum Vorwurf, erst recht nicht dem Kind, das ja gar nichts dafür kann und trotzdem einen furchtbaren Preis für seine wenigen Glücksmomente auf Erden wird zahlen müssen.

Kannst du wollen, dass alle Menschen einen Lebensstandard haben, wie Nico Lange und du ihn pflegen? Das musst du wollen können, wenn du ihn weiterhin genießen willst, weil pflichtethische Annehmbarkeit mit Verallgemeinerbarkeit verbunden ist. Aber du kannst es nicht wollen, weil die Menschheit auf dem gegenwärtigen Stand 3,2 Erden benötigte, „wenn jeder Mensch auf der Welt nach dem deutschen Standard leben würde.“ Daher die verzweifelte Hoffnung, die in die Weltraumpläne der superreichen IT-Fritzen gesetzt wird: Elon Musk wird schon noch rechtzeitig die fehlenden 2,2 Planeten auftreiben – und euch damit die Wahl ersparen, insgesamt weniger zu werden oder weniger zu haben.

 

„Thank you for not Breeding“

Ethisch spricht alles gegen den Fortbestand der Menschheit, wenn auch nicht in toto. Aber exklusive Fortpflanzungsrechte lassen sich eben auch nicht ethisch begründen (von der Durchsetzung ganz zu schweigen…).

Aus dem Denken für das Handeln Konsequenzen zu ziehen ist das mit Pflichten verbundene Privileg der Menschen. Nina Paley geht in ihrem 36-minütigen Kurzfilm „Thank you for not Breeding“ über VHEMT und die Church of Euthanasia noch einmal die Argumente im Monty-Python-Stil durch:

[Offenlegung: Silvester war dir seit dem Verlassen der kindlichen Bewusstlosigkeit immer das, was der 4. Juli den Sowjets bzw. der 1. Mai den US-Amerikanern war – das Fest des feindlichen Aggressors, der sich schamlos feiernd zu einem weiteren Jahr feindlicher Aggression alles Gute wünscht.]

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