Deutschland gibt es nicht

Und sie laufen! Naß und nässer
wirds im Saal und auf den Stufen.
Welch entsetzliches Gewässer!
Herr und Meister! hör mich rufen! –
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.

Ostfriesen stehen in so mancher Hinsicht den Briten und Niederländern näher als den Berlinern, die ihrerseits mehr mit New Yorkern gemeinsam haben als mit den sie umgebenden Brandenburgern, die – sofern weder Wölfe noch Schalenwild – eigentlich Polen sind. Sachsen und Bayern wiederum gehören nicht wirklich zu Mittel-, sondern zu Osteuropa, wie sich nicht zuletzt in der dortigen politischen Kultur zeigt.

Beide Länder gelten seit jeher als selbstverständlicher Privatbesitz der Unionsparteien, die in Sachsen wie in Bayern mit heimattümelndem Law-and-Order-Gerede ihre Untertanen nicht bloß von der Verhökerung ihres Gemeininteresses an Parteispender ablenken, sondern geradezu Stolz auf ihren selbstgewählten Obskurantismus und die ihm vorstehenden Verbrechervisagen empfinden lassen, die jenseits von Vatermord, Korruption und Zynismus über keine andere Kompetenz verfügen – und genau dafür von den Sachsen und Bayern zum Beweis ihres Unwillens, sich des eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, immer wieder und wieder gewählt werden. In Sachsen regiert die CDU seit 1990 ununterbrochen, bis 2004 gar mit absoluter Mehrheit. Bayern hat gar seit 1946 nichts anderes (mit Ausnahme der spektakulären Landtagswahl 1950) als die CSU gewählt.

Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2017 in Bayern und Sachsen (Grafik: Der Bundeswahlleiter, Wiesbaden)

Dennoch sind beide Unionsverbände seit dem Herbst 2017 in schwerer Unruhe, da, anders als von Franz Josef Strauß vorgesehen, rechts der Union nicht mehr die Wand, sondern die AfD steht. In Sachsen hat die AfD mehr Zweitstimmen als die CDU geholt, in Bayern ist sie drittstärkste Kraft geworden mit einem Stimmenanteil, der ungefähr den Verlusten entspricht, die die CSU erlitten hat. Das gängige Narrativ der beiden C-Parteien lautet: Angela Merkels Flüchtlingspolitik hat die Sachsen und Bayern so überfordert, dass sie drohen, sich von der Union unabhängig zu machen, darum müsse jetzt „gegengesteuert“ werden. Den größten Anteil zum Wahlerfolg der AfD leistete allerdings deren Mobilisierung der Nichtwähler; lediglich ein Viertel derer, die 2017 im Bund AfD wählten, hat zuvor die Union gewählt. Aber das schert die C-Parteien nicht, die so oft an den „Realitätssinn“ appellieren wie Trump „Believe me!“ sagt und sich völlig ihren Narrativen und Frames ausgeliefert haben, sodass sie sich auch und gerade in der Weihnachtszeit mit Händen und Füßen dagegen wehren, dass Bürgerkriegsflüchtlinge Frau und Kind in Sicherheit bringen dürfen.

Die größten Attacken gegen christliche (oder auch humanitäre) Werte wurden und werden seit jeher in Sachsen und Bayern von der Union geritten, die in diesen osteuropäischen Politkulturen seit drei Jahrzehnten dem fremdenfeindlichen Affen Zucker gibt und immer, wenn hierzulande Menschen von „überforderten Bürgern“ angegriffen und umgebracht werden, weil sie keinen deutschen Pass haben, das Asylrecht weiter verschärft.

Da die Union in der Bundesregierung aber an Grundgesetz, Menschenrechte und internationale Verträge gebunden ist, kann sie gar nicht den immer weiter eskalierenden Unfug (Obergrenze heißt jetzt atmender Deckel.) umsetzen, den ihre Hausmeier in Sachsen und Bayern dem Mob anbieten, den sie selbst für ihre bisher stabilen Mehrheiten aufhetzen. Die sächsischen und bayrischen C-Parteien haben sich beim Spiel mit dem Feuer verzockt und machen seit 2013 durchgehend Wahlkampf für die AfD.

Deren Wähler werden sie so nicht zurückkriegen, zumal den neuen Unionskönigen Michael Kretschmer und Markus Söder bei dem Versuch weder Mut noch Klugheit anzumerken sind. Kretschmer machte seinen Einstand als sächsischer Ministerpräsident mit der Forderung nach einer „härteren Flüchtlingspolitik“ und kündigte an, „die Union im Freistaat auf einen strikt konservativen Kurs zu führen“ – den sie wann genau dort verlassen hat?

Söder wiederum war gestern im Deutschlandfunk zu hören, der übrigens – um die Illusion einer gemeinsamen Nation mit den osteuropäischen Freistaaten zu nähren – viel zu oft die Vertreter dieser rechtspopulistischen Regional- und kleinsten Oppositionspartei im Bund (6,2 %) zum Interview einlädt. Da in Bayern Landtagswahlen anstehen und Söder sich nach dem innerparteilichen Niederringen Seehofers ein schönes Placet holen will, steht bei einer erneuten Regierungsbeteiligung der CSU zu befürchten, dass wieder ganz Deutschland die Schnapsideen ausbaden muss, mit denen im Freistaat AfD-Wähler gegen jede Vernunft und Wahrscheinlichkeit (Moral sowieso) zurückgewonnen werden sollen. „Die Mehrzahl der Wähler der AfD sind nur ganz normale Leute“, sagt Söder lammfromm im DLF. Nachdem sein Parteikollege Alexander Dobrindt jüngst von einer „konservativen Revolution“ fabulierte, offensichtlich ohne zu wissen, was er da sagt, ist anzunehmen, dass auch Söder bei seiner Beschreibung der AfD-Wähler nicht an den Klassiker von Christopher Browning dachte.

So schlimm steht es um die Erbmonarchien der beiden deutschen Visegrád-Staaten, dass ihre Vertreter nur aus Versehen mal die Realität erfassen, aus der sie dann aber ohnehin die in jeder Hinsicht falschen politischen Konsequenzen zögen.

Zeit für „La deutsche Vita“ von Das Neue Nichts:

 

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