Lesen ist eine feine Sache. Man kommt viel zu selten dazu und der ganze Alltagsquatsch, der einen davon abhält, gehört ja zu einer Welteinrichtung, der es gut in den Kram passt, wenn Bücher hauptsächlich gekauft und verschenkt, aber möglichst selten oder gar einfach so gelesen werden.
„Denn Lesen, die einsame Lektüre, der Rückzug ins Kämmerchen, aufs Sofa, auf die Wiese oder egal wo in den Schmöker ist doch per se (und sei’s ungewußter) Widerstand gegens drängend-fordernd Allgemeine, Gesellschaftliche, darin Autoritäre“,
wie Stefan Gärtner vor einem Weilchen im einzig vernünftigen Kommentar zu Buchmesse und ubiquitären Leseoffensiven schrieb. Das albern-nutzlose Herumgeträume in weltfremden Phantasiewelten rief bereits im 18. Jahrhundert den Frauen- und Jugendschutz auf den Plan wider die der Gesellschaftsfähigkeit und Lebenstüchtigkeit abträgliche „Lesewut“. Für die davon Betroffenen ist es scheinbar bloß „ein Spiel, ein Zeitvertreib, eine Schwelgerei, besonders wenn es auf bloßes Beschäftigen und Kitzeln ihrer Einbildungskraft, und auf durchaus nichts Höheres abgesehen ist“… Drum kann gar nicht genug gewarnt werden vor den Gefahren des Lesens, besonders „in unsern Tagen, da durch einfache Druckwerkzeuge das schlechteste, wie das beste Werk mit wunderbarer Schnelligkeit vertausendfacht und in die Welt ausgestreut werden kann.“ (1821)
Den wackeren Rowdys und Wildfängen, die sich trotzdem auf das verruchte Treiben einlassen, war der Lohn aller Expeditionen in die Gensfleisch-Galaxis stets ein doppelter – die scheinbar widersprüchliche Kombination von Eskapismus und Identifikation: Der erfolgreiche Widerstandsakt der – und sei es nur zeitweise – glückenden Flucht aus dem Reich der Notwendigkeit zum einen; zum anderen die Erfahrung, in der fernen Welt zwischen zwei Buchdeckeln etwas Vertrautes und Heimliches zu entdecken.
Ganze Generationen von Lesern haben mit dem „Steppenwolf“, „Fänger im Roggen“ oder Pessoas „Buch der Unruhe“ die Erfahrung gemacht, einen Teil von sich in einem Buch aufgeschrieben zu finden, mit dem sie bis dahin glaubten, für immer stumm und allein bleiben zu müssen – weil es unmöglich schien, dass es auch nur einem einzigen anderen Menschen ähnlich gehen könnte. Und dann der glorreich dreifache Zufall, dass es eben doch jemanden gibt, dem es ähnlich geht, dieser jemand ein Schriftsteller ist und man unter den Millionen von Büchern, die inzwischen unsere arme Jugend verwirren, ausgerechnet eines aus seiner Feder liest. Halt sowas wie diese Stelle aus den Notizen des Träumerkollegen und Buchhalters Bernardo Soares:
„Die Isolation hat mich nach ihrem Bild und Gleichnis geformt. Die Gegenwart einer anderen Person – wer auch immer sie sein mag – verlangsamt sogleich mein Denken, und während für einen normalen Menschen der Kontakt mit anderen wie ein Stimulus auf seine Ausdrucksweise und sein diskursives Denken wirkt, ist dieser Kontakt für mich ein Gegen-Stimulus […]; ich vermag nicht mehr zu denken, weiß mich nicht mehr zu äußern und fühle mich nach einiger Zeit nur noch müde. […] Nur meine gespenstischen, imaginären Freunde, nur meine im Traum geführten Gespräche erweisen sich als wirklich, wahrhaftig und profiliert, in ihnen ist Geist gegenwärtig wie ein Bild in einem Spiegel.
Zudem belastet mich der Gedanke, mit jemand anderem in Kontakt treten zu müssen. […] – allein der Gedanke daran bringt mich einen Tag lang, bisweilen bereits am Abend zuvor, aus dem Konzept; ich schlafe schlecht, und wenn es dann wirklich soweit ist, verläuft alles völlig problemlos, und die Aufregung erweist sich als absolut unnötig; aber jedes Mal ist es wieder dasselbe, ich werde nie lernen, etwas daraus zu lernen.“