Wenn andere eine Grube graben

Gestern sind in China 20 Bergarbeiter bei einer Explosion in einem Kohlebergwerk ums Leben gekommen. Das Radio meldet’s und du denkst dir: Arme Schweine. China ist groß und bevölkerungsreich. Die Technokraten werden mit Blick auf die Rohstoffversorgung achselzuckend über teure Sicherheitsmaßnahmen hinweggehen und bestenfalls Krokodilstränen vergießen. Ja? Was weißt denn du!
Ebenfalls gestern ist der Gotthard-Tunnel durchstoßen worden. Bei der Arbeit am längsten Tunnel der Welt sind bislang neun Bergleute unter den Alpen umgekommen, wo die Temperaturen mit modernster Technik von 40° C auf 28° C heruntergekühlt werden und selbst ein einfacher Arbeiter 5.000 Euro pro Monat verdient. Vom Mitgefühl überfordert, das die täglichen Unglücksmeldungen verlangen, bleibt im Falle von Toten unter Tage immer der schnoddrige Rückzug auf die Position, es werde ja niemand zu dieser Arbeit gezwungen, über deren (im Idealfall gut entlohnte) Gefährlichkeit jeder sich im Klaren ist.
(Ein ähnlicher Reflex erleichtert euch den Umgang mit den Toten und Verletzten in Afghanistan und Irak. Das Wissen um die Möglichkeit, einen gewaltsamen Tod zu erleiden, der von den allermeisten Menschen höchstens mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen wird, trägt zur Verzweiflung und zum Stolz von Bergleuten wie Soldaten bei. Es sind hochgradig absurde Berufe und Camus hätte ihnen gewiss noch einen Roman gewidmet.)

So kommt das Achselzucken auch hier zustande, auch bei dir, als es Anfang August hieß, beim Einsturz einer Kupfermine in Chile seien Dutzende von Bergleuten verschüttet worden. Arme Schweine, hoffentlich ging es wenigstens schnell. Es ward gemeldet und vielleicht haben sich die Einkäufer in Elektronikkonzernen kurz Sorgen gemacht über einen eventuellen Anstieg des Kupferpreises. Aber insgesamt war es das mit dieser Mine und ihren Arbeitern – erledigt wie die gestern explodierte in China und die nächste, die irgendwo einstürzen wird.
Bis gut zwei Wochen später gemeldet wurde, die Bergleute seien noch am Leben, wenn auch 700 Meter unter der Erde gefangen. Seither „hat die Welt mitgefiebert“, wie man so blöd sagt, und zwar in einem Ausmaß, als würde jede sonst übliche Distanz zu Grubenunglücken ins Gegenteil verkehrt. Die Erleichterung, verunglückte Bergarbeiter hätten gewusst, worauf sie sich einlassen, scheint umzuschlagen in eine Beklemmung, die sonst nur vorherrscht, wo es um Unglücke geht, die Menschen „unverschuldet“ und tatsächlich auch einen selbst treffen könnten: Terroranschläge, Flugzeugabstürze, Naturkatastrophen.

Selbst Herrschaften wie Giesbert Damaschke und Herbert Debes, die der Sentimentalität und des medialen Herdentriebs gänzlich unverdächtig sind, gaben via Twitter ihrer Freude über die Rettung der eingeschlossenen Chilenen Ausdruck. Eine Freude, die von der anhaltenden Sorge der letzten Wochen zeugte, die du wie viele andere auf sonderbare Weise geteilt hast. Weshalb im Nachfeld nicht wenige grübeln, was da denn mit ihnen geschehen ist.
Der Grund der mitgefühlten Beklemmung ist eine Sache der Psychologen und Anthropologen; wenn sie euch mit ihren Spiegelneuronen kommen, können sogar die Neurofritzen und Kognitionswissenschaftler Tipps abgeben. So überlegt Zoe Williams im Freitag, es sei vor allem der überschaubaren Zahl von 33 Eingeschlossenen zu verdanken, dass das Mitgefühl kommod genug für jeden war.
Ansonsten wird es auf menschliche Urängste hinauslaufen und auf die Vorstellungskraft, die diese nähren. Ihr hört die Meldung und wagt kaum euch auszumalen, wie es sein muss, lebendig begraben zu sein in Hitze und Dunkelheit mit 700 Metern rutschigem Wüstenboden über dem Kopf. Die Phantasie rast zur Erlösung, sei es die Befreiung von außen oder der schnelle Tod, den man Unrettbaren wünscht. Eine Verzweiflung im wahrsten Sinne, denn der schnelle Tod schließt die Rettung aus, während die Rettung ein Abwarten erfordert, das sich für den Eingeschlossenen als das langsame Zudrücken des Todes erweisen kann.
Denke an den Untergang des U-Boots Kursk im Jahr 2000. Als klar war, dass ein Teil der Besatzung die Explosion, die das Schiff auf den Meeresboden sinken ließ, überlebt hatte, regte sich die Phantasie auf ähnliche Weise: eingeschlossen in einer brüchigen Stahlhülle zusammen mit einem bollernden Atomreaktor unter 108 Metern Eiswasser und keine Aussicht auf Rettung – hoffentlich lässt der Tod nicht qualvoll auf sich warten. Umso erschütternder der Abschiedsbrief, den ein Matrose der Kursk schrieb, während er im Dunkeln erstickte.

Der Grund des Mitgefühls mit den eingeschlossenen Bergarbeitern unter der Atacama-Wüste und der bangen Hoffnung auf ihre in dieser Woche geglückten Rettung ist eine psychologische oder anthropologische Sache. Die Suche nach dem philosophischen Aspekt daran fiel kurz aus, denn Burkhard Müller-Ullrich hat ihn in einem Radio-Kommentar bereits gefunden. Er kommt zu dem Schluss, dass in den 69 Tagen, in denen 33 Menschen tief unter der Erde eingeschlossen waren und alle anderen Menschen in Gedanken immer wieder bei ihnen waren, wieder einmal oder vielleicht zum ersten Mal überhaupt so etwas wie „die Menschheit“ denkbar geworden ist.

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