Kennst Du Wayne?

„Wayne interessiert das“, so ein inzwischen steinalter Spruch. Wayne interessieren Neuerscheinungen und Debatten, steile Thesen und worin sich sonst noch die inzestuösen Eitelkeiten des deutschsprachigen Literaturbetriebs erschöpfen.

Aber das ist natürlich gemein. Kultur ist wichtig und nichts wäre dümmer, als ihre Relevanz mit Zahlen be- oder widerlegen zu wollen. Kulturstaatsministerin Monika Grütters glaubt, durch das von ihr aufgelegte Förderprogramm für die Branche werde „mittelbar auch die gesamte Wertschöpfungskette des Literarturbetriebs profitieren“, auch wenn der seit Jahren schon die Kundschaft wegläuft.

Das Deutsche ist für etwa 90 bis 105 Millionen Menschen Muttersprache und dient „weiteren rund 80 Millionen als Zweit- oder Fremdsprache“.

Die Verlagsbranche wie auch der gesamte Betrieb betont gern, es eher mit Buchstaben als Zahlen zu haben, weswegen um letztere ein großes Geheimnis gemacht wird. Das wäre als Widerstand gegen die Quantifizierung des Lebens lobenswert, ist aber wahrscheinlich nur Scham darüber, ein riesenhaftes Kulturgewese zu machen, das von nichts als sich selbst lebt. Da es schwer bis unmöglich ist, die Zahl derer zu ermitteln, die sich ernsthaft für die Vorgänge innerhalb des Literaturbetriebs interessieren, lässt sich nur schätzen.

Das Deutsche ist für etwa 90 bis 105 Millionen Menschen Muttersprache und dient „weiteren rund 80 Millionen als Zweit- oder Fremdsprache“ (Wikipedia). Rechnen wir also mit 180 Mio. Menschen, die potentiell in der Lage sind, etwas mit deutschsprachiger Literatur und dem Rummel drumzu anzufangen. Wie viele davon interessieren sich genug dafür, um sich auf den eigenontischen Weg zu einem der Großereignisse zu machen?

 

Buchmesse

Die Frankfurter Buchmesse hat im vergangenen Jahr die Marke von 300.000 Besuchern „geknackt“, die Hälfte davon waren „Fachbesucher“ (144.000) und Journalisten (10.000). Hinzukommen 7.500 Aussteller. Als „Fachbesucher“ gelten „Verleger, Buchhändler, Agenten, Filmproduzenten oder Autoren“, also die „die Entscheider der Branche“, vielleicht auch die „Buchhändler*in, Bibliothekar*in, Studierende oder Auszubildende in der Buchbranche“, die sich um Rabatt oder Freikarten bewerben kann.

Wie auch immer sie reingekommen sind, von den 300.000 Leuten auf der Buchmesse muss über die Hälfte aus beruflichen Gründen da sein. 140.000 Menschen, also 0,078 % aller Deutschsprachigen interessiert sich genug für den Betrieb, um sich freiwillig auf die Buchmesse zu begeben. Das ist nicht schlecht und entspricht etwa der Zahl der Stadionbesucher bei zwei bis drei Spielen des FC Bayern München – und auch um Fußball wird ja ein ungeheures Gewese gemacht, auch wenn die meisten Menschen weder ins Stadion gehen noch mit diesem Kram ihr Geld verdienen geschweige denn sich mangels Interesses auch nur einen einzigen Trainernamen merken können.

 

Buchbranche

Dass der Börsenverein jedes Jahr den „Buchmarkt in Zahlen“ präsentiert, bestätigt die Heimlichtuerei, statt sie zu widerlegen. Denn Zahlen lassen sich am besten mit Zahlen verbergen: Dem Börsenverein als Teil der Literaturbetriebslobby geht es hauptsächlich um die „Entwicklung“ der Branche: Ein Plus gilt als Beleg der eigenen Unentbehrlichkeit, ein Minus als Vorbote des Untergangs des Abendlands.

In deutschen (nicht deutschsprachigen) Verlagen sind laut Börsenverein, der es vom Statistischen Bundesamt hat, ca. 25.000 Menschen angestellt, im Buchhandel nur einige Tausend mehr. Etwas über 1.000 Jungmenschen beginnen pro Jahr eine Ausbildung zum/r Buchhändler*in, etwas mehr wollen „Medienkaufmann/-frau“ werden. Nimmt man all das großzügig zusammen, kommen wir auf 60.000 Deutsche, die direkt mit Büchern ihren Lebensunterhalt bestreiten. Nimmt man noch großzügiger an, in allen deutschsprachigen Ländern seien anteilsmäßig genauso viele Leute in dieser Branche beschäftigt wie in Deutschland, kommen wir auf weltweit 135.000 Menschen.

Pi mal Daumen.

In Deutschland erscheinen pro Jahr 80.000 neue Bücher. Angenommen, jedes ist von nur einer Person verfasst oder übersetzt worden, haben wir 80.000 Deutsche, die in einem Börsenvereinsverlag veröffentlicht haben. Auf den gesamten deutschsprachigen Bereich hochgerechnet wären das 180.000 Menschen, die davon nicht leben können, sondern damit nur ihren Zugang zu den wenigen lukrativen Trögen des Betriebs erleichtern: Lesungen, Gastartikel, Rundfunk-Beiträge usw.

Insgesamt gäbe es somit 315.000 Deutschsprachige, die „was mit Büchern“ machen. Das ist bei einer Sprachgemeinschaft von 180 Mio. ein erstaunlicher Anteil von 0,18 %. Nicht schlecht bzw. zu gut, um wahr zu sein.

 

Leserinnen

Über die Leserinnen – nur bei Patientinnen im Kreißsaal ist das generische Femininum noch angebrachter – weiß man noch weniger. „Im Jahr 2017 kauften in Deutschland 29,6 Millionen Menschen (ab 10 Jahren) Bücher“, meldet print.de unter Berufung auf den Börsenverein, und zwei Klicks weiter: „2017 lag der Durchschnittseinkauf bei 12,4 Titeln pro Person.“

Rund 30 Mio. Deutsche kaufen jeden Monat ein Buch für gute zehn Euro. Demnach hätten 2017 in Deutschland 367 Millionen Bücher verkauft worden sein müssen. Auf die ganze deutschsprachige Welt hochgerechnet kaufen 67 Mio. Menschen in einem Jahr wie 2017 also 826 Mio. Bücher; wie viele Exemplare welchen Titel in welcher Sendung oder Zeitung zum Bestseller machte, weiß nur der Verlag. Kolja Mensing schätzte mal im DLF, 25.000 Exemplare würden heute für den Einstieg in die SPIEGEL-Liste reichen und wer da erstmal drin ist, dem wird reichlich nachgeschenkt.

Das heißt nicht, 67 Mio. Menschen würden sich auch für den Betrieb dahinter interessieren. Es ist nicht rauszukriegen, bei wie vielen der 67 Millionen es sich um Eltern schul- und also lektürepflichtiger Kinder oder um eine Oma handelt, die ihrem Enkel einen Harry Potter als Geschenk gekauft hat, sowie um ein Mädchen, das pro Jahr 25 Bände Asterix und Obelix locker weghaut. Allen ist herzlich egal, was beim Wettlesen in Klagenfurt passiert und über welche Manifeste, Appelle oder offenen Briefe gerade gestritten wird.

Auf die für 2017 geschätzte Zahl von 67 Mio. Buchkäuferinnen dürfte man 2020 nicht mehr kommen. Auch dem raschelnden Papier kommen die Leser seit Jahren abhanden. Die FAZ hat noch ein Feuilleton und eine Auflage von 183.000, bei der SZ sind es 308.000, der SPIEGEL hat auch einen Literaturteil und verkauft pro Woche 642.000 Exemplare, die ZEIT 522.000 Exemplare.

Den Anzeigenkunden wird suggeriert, Hunderttausende kauften sich diese Blätter und gäben sie nach der Lektüre noch an Freunde und Verwandte weiter. Kann sein, kann auch nicht sein. Niemand weiß, wie viele Leute eines dieser Periodika lesen, noch rätselhafter die Zahl derer, die das Feuilleton nicht einfach gähnend überblättern. Gewiss ist sie größer als die Enzensbergersche Konstante von ±1.354 Menschen, die – unabhängig von der Sprachgemeinschaft – „einen neuen, einigermaßen anspruchsvollen Gedichtband in die Hand nehmen“. Aber wie viel größer? Zehnmal, tausendmal, millionenmal?

 

Rückwärtsrechnen

Es ist dumm und schwer, aus den wenigen Informationen, die der Betrieb über das Zustandekommen seiner 9 Mrd. Euro Jahresumsatz herausrückt, auf seine tatsächliche Relevanz zu schließen. Aber für sie wird ein gutes Gefühl haben, wer mit den Mitteln der Aufmerksamkeitsökonomie haushalten muss.

Darum vielleicht mal andersrum gerechnet: In Deutschland gibt es 30.000 festangestellte Journalisten, auf die mindestens anderthalb mal so viele freie Journalisten kommen. Der Deutsche Fachjournalistenverband dagegen rechnet für 2016 ohne Quellenangabe mit 156.000 Journalisten und Redakteuren, in denen die 67.000 laut Bundesagentur für Arbeit freischaffenden Journalisten wohl nicht enthalten sind.

Zwischen 75.000 und 223.000 Deutsche machen also „was mit Journalismus“ und da der Berufstitel nicht geschützt ist, liegt die Zahl eher höher als niedriger. Nimmt man also an, von 80 Mio. Deutschen arbeiten 200.000 als Journalisten, haben wir im ganzen deutschsprachigen Raum 450.000. Von ihnen waren 10.000 entbehrlich genug, um beruflich zur letzten Frankfurter Buchmesse geschickt zu werden.

Durch die mit der Wundermacht des Marktes vertraute Weisheit von Chefredaktion und Herausgebern entspreche dieses Verhältnis 1:45 genau der Interessenslage der Leserschaft. Angenommen also, eine Zeitung wird in einem Durchschnittshaushalt mit zwei Personen gelesen: Eine halbe Million Menschen greift demnach pro Tag zu FAZ und/oder SZ, dann würden – 1:45 – etwas mehr als 11.000 Menschen deren Feuilleton lesen. SPIEGEL und ZEIT erreichen pro Woche vielleicht je 1,2 Mio. Menschen mit Deutschkenntnissen, von denen gut 27.000 den Literaturteil wahrnehmen.

Darin enthalten dürften die 3.349 Personen sein, die laut SPIEGEL bzw. Statistischem Bundesamt irgendwie als Germanist*in an Hochschulen tätig sind. Aber wie viele der 80.000 Germanistik-Studierenden? Von den 135.000 Angestellten von Verlagen und Buchhandlungen kennst du einige, die weder zur Buchmesse fahren noch überregionales Feuilleton lesen.

Am Ende sind diejenigen, die sich ernsthaft für aktuelle Debatten im deutschsprachigen Literaturbetrieb interessieren, zahlreicher als 1.354 Gedichtbandhalter, aber mehr als ein durchschnittliches Oberzentrum kriegte man mit ihnen auch nicht besiedelt. In den Bestseller-Listen stehen die Bücher, die diese Leute – und nur diese Leute – gekauft haben, und als relevant gilt, was diese Leute – und nur diese Leute – wortreich und zahlenarm als relevant verkaufen.

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