Alles, was lebt, basiert auf dem Wechsel von Kontraktion und Relaxation. So, wie eine Lichtwolf-Ausgabe in den Wochen vor der Veröffentlichung alle Kräfte, Gelder und Tage auf sich bündelt, setzt sie sie in den Wochen nach Erscheinen des Hefts wieder frei. Dann bricht sich der Übermut die Bahn: Was könnte man jetzt alles anstellen, ehe es in zwei Monaten wieder ins selbstgewählte Joch geht!
In manchen dieser Phasen gelüstet es dich nach exzessiver Zockerei, um die Birne frei- und die Freizeit vollzukriegen. Wenn dann noch ein Computerspiel im Sonderangebot ist, umso besser, und so hast du dir vor zwei Wochen „Die Sims 4“ gekauft.
Das ist ein Spiel für dich, der du qua Geschlecht in deiner Kindheit, die sich zu den Zeiten mit strikten Geschlechterrollen ereignete, in die sich Rechtspopulisten zurücksehnen, nicht mit Puppen spielen konntest. Vielmehr musstest du deine spielerischen Sozialexperimente in einer wuchernden LEGO-Stadt veranstalten, die dein halbes Kinderzimmer einnahm.
Es gibt schlimmere Kindheiten und so ist der Kompensationsgewinn durch „Die Sims 4“ nicht allzu groß. Im Prinzip handelt es sich um ein großes, digitales Puppenhaus oder viel eher um eine LEGO-Stadt mit besserer Grafik. Es stehen schon einige Häuschen in idyllischer Umwelt herum, manche sind bewohnt, in andere kann man seine selbstgebastelten Menschen hineinsetzen oder ihnen gleich auch noch ein Häuschen auf einem freien Grundstück basteln. Nicht nur das Äußere der Puppen – von Geschlecht über Alter bis zu Klamotten und Körperbau – ist gestaltbar, sondern auch Charakter sowie Vorlieben. Insofern ist der Werbeslogan nicht ganz übertrieben:
Du erschaffst. Du lenkst. Deine Story in Die Sims 4. Erschaffe neue Sims mit großen Persönlichkeiten und individuellem Aussehen. Steuere Körper, Herz und Geist deiner Sims und spiele Schicksal in Die Sims 4.
Um erst einmal die Möglichkeiten des Spiels zu erkunden, hast du dir ein paar gute, ein paar doofe und ein paar Reste geschaffen. Für Chantal-Joy Schwakowiak zum Beispiel hast du eine schöne Trailerpark-Bude gebaut und bist bereits an erste Grenzen gestoßen: So richtig abgefuckt kann in dem Spiel nichts sein, weder Wohnklo noch White Trash. Es gibt keine Sommersprossen, keine Kälte, keine Drogen, keine Geschlechtskrankheiten und selbst Kriminalität ist – da es im Grundspiel keine Polizei gibt – eine genauso für eine schnöde Karriere wählbare Branche wie Astronomie oder Malerei.
Chantal-Joy ist so hässlich wie möglich, faul, gefräßig und kleptomanisch, fragt jede und jeden, den sie trifft, sofort nach dem Beziehungsstatus und fängt, wenn er oder sie vergeben ist, eine Schlägerei an bzw. flirtet auf Deubel komm raus los. Bislang hat Chantal-Joy vier Kinder (alles Jungs) von vier verschiedenen Männern, einen davon geheiratet und dann zum Teufel gejagt, weshalb sie finanziell nicht mehr auf ihren Job als Kleinkriminelle angewiesen ist. Nun kann sie den ganzen Tag vor der Glotze auf ihrer Veranda Würstchen fressen und mit den Schwestern und Frauen ihrer Ex-Männer rumknutschen. Währenddessen hat ihr Ältester, Horst-Justin Schwakowiak, fleißig die Schule geschwänzt und sich in der Muckibude zu einem beängstigenden Kraftpaket entwickelt, das – da er wahnsinnig und leicht reizbar ist – mehr Schlägereien als seine Frau Mutter hinter sich hat und selbst die gar nicht so alte Dame mühelos vertrimmen kann, wenn er sich nicht gerade am Spielzeug seiner kleinen Brüder mit Brille abreagiert, die – so hast du das beschlossen – zu Computer- und Kunstgenies heranwachsen sollen.
„Die Sims 4“ ist eine ziemlich affirmative Kiste, harmlos und beschränkt wie ein Puppenhaus, und macht deswegen auch so Spaß. Die Welt ist überschaubar und kann nicht dreckig, hässlich oder kaputt gemacht werden, dafür kann alles entschuldigt, repariert oder ersetzt werden. Es gibt weder Hunger noch Obdachlosigkeit, da man seine Figuren im Park grillen lassen und in den Häusern anderer Leute pennen lassen kann. Arbeiten muss man schon gar nicht: Für ein paar Spieldollar buddelt man eben nach seltenen Steinen oder nach Gemüse, die man problemlos vom Fleck weg an die unsichtbare Hand des Marktes verkauft.
Mit Realismus tun sich alle Spiele naturgemäß schwer. Würde die Realität Spaß machen, bräuchte man keine Spiele wie „Die Sims 4“. Auch wenn es keine Krankheiten gibt, so gibt es doch das Alter, das wahrlich von einem Tag auf den anderen kommt: Fünf Mal hat ein Neugeborenes Geburtstag und wird jeweils schwuppdiwupp zum Kind, Teenager, jungen Erwachsenen, Erwachsenen und schließlich zum Senior, dem bald die Altersschwäche zu schaffen macht. Den Spielerinnen (denn es sind anscheinend fast nur Mädchen und Frauen, die „Die Sims 4“ spielen) diesen Hauch von Realismus zuzumuten, wäre hart, gerecht und lehrreich – wenn es nicht möglich wäre, Alter und Tod in den Optionen einfach auszustellen. Das hast du aber erst rausgekriegt, als es schon zu spät war.
Ganz so wie zu Zeiten der LEGO-Stadt hast du dir natürlich auch ein Favoritenpärchen geschaffen, in das du deine ideale Zukunft projiziert hast: Gut aussehende, witzige Intelligenzbolzen, die lesen und musizieren sowie von Gemüseanbau und Bücherschreiben erstaunlich gut leben können (unrealistisch!, aber siehe oben). Zudem hast du die beiden so oft in romantische Interaktionen miteinander geschickt, dass der rosafarbene Balken, der ihre Liebesbeziehung anzeigt, fast durchgeglüht wäre. Gott, was haben die sich geliebt!
Da du beide zur gleichen Zeit erschaffen hast, sind sie auch im Abstand von einigen Minuten ins Greisenalter gekommen. Gut, hast du dir gedacht, sollen sie sich noch einen schönen, weiterhin in jeder Hinsicht (auch sexuell) äußerst aktiven Lebensabend machen. Aber schön ein paar Stunden später legte sich das nach dir benamste Männchen zum Sterben hin – mitsamt eines dramatischen Auftritts des Sensenmanns. (Der hier und da auch z.B. im Fitnessstudio zu sehen ist und seit diesem ersten Auftritt von all deinen Figuren, wo immer sie seiner habhaft werden, konsequent beleidigt und in eine Schlägerei verwickelt wird – auch wenn er die jedes Mal gewinnt.) Als die Witwe neben ihrem toten Mann – der Liebe ihres Lebens – erwachte, brach sie dermaßen herzzerreißend in Tränen aus, dass du gleich mitgeheult hast. Kurz darauf ist sie ebenfalls gestorben.
Insofern ist „Die Sims 4“ doch sehr realistisch: Egal wie viel Mühe du dir bei der Lebensgestaltung gibst, wie glücklich, erfolgreich und fähig du wirst, wie viel du liebst und pflanzt, am Ende bleibt nichts übrig und in dein Haus ziehen Fremde ein.
Es sei denn, du findest die Spieloptionen und Cheat-Codes. Dann ist „Die Sims 4“ so affirmativ wie nur irgendwas. Denn wozu die Negation in die Welt tragen, wenn du im Spiel so viel mehr so viel schmerzfreier erleben kannst.