Die „Flüchtlingswelle“ in Ostfriesland

Jede Provinz hat ihre Traditionen. Zu einer solcher der hiesigen gehört der „Ostfriesland Kalender“, der seit 103 Jahren vom Verlag Soltau-Kurier-Norden (SKN) herausgegeben wird, in dem mit dem „Ostfriesischen Kurier“ auch das Lokalblatt erscheint. Jedes Jahr kommt ein kleines grünes Büchlein mit dem immergleichen Titelbild in den Handel, aus irgendwelchen Gründen nur in drei Jahren in der Mitte des gemächlichen 20. Jahrhunderts nicht, weshalb der „Ostfriesland Kalender“ 2014 Jubiläum feiern konnte (100 Jahre) und dieses Jahr gleich noch einmal (100. Ausgabe).

 

Der „Ostfriesland Kalender“ wird wohl weniger gelesen als gekauft, auch wenn der NDR das Ding jüngst in einer unerträglich überdrehten Reklamesendung als „Kult“ und „Must-have“ der Region bezeichnete. In hiesigen Haushalten gehört er unter den Weihnachtsbaum und dann ins Regal, weil da nun einmal schon Dutzende von Bänden stehen und der homo frisensis immer weniger Jäger und immer mehr Sammler ist.

Neben hundertjährigem Kalender mit Tidezeiten, Horoskopen und Gartentipps findet sich da ein tagesgenauer Trächtigkeitskalender fürs liebe Vieh. Hinten drin ist ein Adressenverzeichnis, in dem von der Deichacht bis zur letzten Dorfschule alle Mitarbeiter samt Durchwahl verzeichnet sind. Dazwischen gibt es heimatkundliche Döntjes von mehr oder weniger berufenen Hobbyhistorikern, von ähnlich enthusiasmierten Lokalintellektuellen verfasste und mittels Zeilenumbrüchen zu „Gedichten“ geadelten Nettigkeiten und ein paar Werbeanzeigen. Der löblichen Pflege des Plattdeutschen kommen die Herausgeber ebenso nach wie ihrer Chronistenpflicht. Verlagschef Christian Basse höchstpersönlich trägt dafür in der Jubiläumsausgabe zusammen, was anno 2016 so in Ostfriesland und der Welt los war: Zwischen Norddeich und Norderney wird eine neue Fähre eingesetzt, die strukturschwache Region bangt nach dem Abgasskandal um das VW-Werk in Emden, es gab Kommunalwahlen und natürlich die „Flüchtlingswelle“.

Der Gebrauch des Katastrophenvokabulars scheint vor allem für denjenigen Zeitungsmagnaten selbstverständlich, der es mit einer Leserschaft zu tun zu haben glaubt, die Fremde nur im Fremdenverkehr erträgt und in ständiger Angst vor der nächsten groten Mandrenke lebt. Die auffließenden Massen sind zerstörisch, die darauf folgenden auch: „Inzwischen hat die erste Hilfsbereitschaftswelle in Deutschland deutlich abgenommen“, schreibt Basse auf Seite 65 und überlässt dem Leser die Konjunktion zum direkt folgenden Satz: „Die Probleme der Migration werden inzwischen deutlich realistischer eingeschätzt.“

Vielleicht kennt Basse den Unterschied zwischen „Flucht“ und „Migration“ nicht, vielleicht will er ihn auch gar nicht kennen und erst recht nicht seiner Leserschaft zumuten. Dafür spricht, dass der Absatz über die „Flüchtlingswelle“ ohne chronologische Not von den Terroranschlägen in Frankreich umrahmt ist – Paris im November 2015, Nizza im Juli 2016 – und dass an keiner einzigen Stelle das Wort „Syrien“ vorkommt. Stattdessen geht es um die „fehlende schulische und berufliche Qualifikation der Flüchtlinge“ und „eine gänzlich andere kulturelle und religiöse Sozialisation der Migranten“, als ob das (mit dem Dublin-Verfahren bis an die Grenze der Unmöglichkeit eingeschränkte) Recht, einen Asylantrag zu stellen, eine arbeitsmarkt- oder kulturpolitische Maßnahme wäre.

 

Glücklicherweise hat es der linksgrün versiffte Tugendterror so weit gebracht, dass auch ein Zeitungsverleger in der Provinz sich nicht mehr offen rassistisch zu äußern traut. Besser wird die Sache dadurch nicht, der deutsche Ungeist muss sich nur durch ein paar zusätzliche Wendungen quälen, um zu Tage treten zu können.

Anstatt sich über die faulen Ausländer zu mokieren, erwähnt Basse mit Bezug auf die FAZ, wie wenige Migranten (er meint wahrscheinlich Flüchtlinge) bei DAX-Unternehmen und in Behörden Arbeit gefunden haben. (Wie vielen der SKN-Verlag, immerhin einer der größten Arbeitgeber vor Ort, einen Job oder Ausbildungsplatz gegeben hat, wird nicht erwähnt.) Nun ist es nicht die Andersartigkeit der Fremden, die der Verwertung ihrer Arbeitskraft im Weg steht, sondern die deutsche Flüchtlingsbürokratie:

„Einerseits gelten für Flüchtlinge, die sehr oft gerne arbeiten würden, weil sie Geld nach Hause schicken wollen, die hohen bürokratische Hemmnisse des deutschen Wohlfahrtsstaates wie Mindestlohn, zuerst Anerkennung als Asylsuchender, in der Duldungsphase des Verfahrens keine Arbeitserlaubnis usw. Andererseits können die Flüchtlinge einfach nicht den ganzen Tag betreut und kontrolliert werden. Wenn der Sprach- und Förderunterricht über Monate nur täglich vier bis sechs Stunden beträgt, ist die Versuchung für Flüchtlinge auf kriminelle Art Geld zu verdienen einfach übermächtig. Die Polizeistatistiken sprechen hier eine ganz eindeutige Sprache.“

Aus dem „Ostfriesland Kalender“ 2017, S. 65.

Das ist noch kein neorassistischer Kulturalismus, der rassistisch argumentiert, ohne den geächteten „Rassen“-Begriff zu verwenden. Der Chronist Basse behandelt ein sensibles Thema aber mit einer Schludrigkeit, die ihm nicht unterlaufen wäre, ginge es um die wirtschaftlichen Interessen seines Unternehmens. Das menschenfeindliche Katastrophenvokabular, die ahnungslose Verwechslung von Flüchtlingen und Migranten, die Ignoranz gegenüber den Fluchtgründen, die Reduktion von Integration auf Arbeitsmarkt und Bürokratie – alles geschenkt, kann ja mal passieren, schreibt man vom großen Chefschreibtisch aus frisch von der Leber weg seinen Jahresrückblick. Klar, hätte man sich vorher ein bisschen mit dem Thema beschäftigen müssen, aber wo ist die Zeit!

Wird man jedoch nicht auch von einem Provinzverleger erwarten dürfen, dass er sich genau überlegt, was er schreibt – noch dazu in seinem vorgeblich wichtigsten Produkt, dem „Ostfriesland Kalender“, der ausdrücklich zum Aufbewahren und Immerwiederhervorholen gedacht ist?

Flüchtlinge wollen nicht etwa gern arbeiten, weil sie eine anerkannte Beschäftigung und soziale Kontakte suchen, um sich ein neues, selbstbestimmtes Leben aufzubauen, sondern nur, weil sie Geld nach Hause schicken wollen. Und da sie nicht rund um die Uhr in Sprachkursen beschäftigt gehalten werden können, erliegen sie – womöglich wegen ihrer „gänzlich andere[n] kulturelle[n] und religiöse[n] Sozialisation“ – dem Reiz des Verbrechens…

Den berechtigten Hinweis, dass sich gute 2.000 Neu-Ostfriesen nicht mit einem Fingerschnipsen in Lohn und Brot bringen lassen, mit solchen Insinuationen zu würzen, erspart es Basse, sich von hiesigen Fremdenfeinden als Lokalpatron der Lügenpresse beschimpfen lassen zu müssen. Freilich um den Preis der Wahrheit. Denn die Polizeistatistiken, von deren eindeutiger Sprache da geraunt wird, widerlegen ihn. Die leitenden Beamten der hiesigen Polizei betonen – im Einklang mit dem Bundeskriminalamt – seit dem Herbst 2015, dass die Kriminalitätsrate natürlich steigt, wenn die Bevölkerungszahl steigt, und dass Flüchtlinge eher weniger delinquent sind als Einheimische. Basse hätte das wissen können, schließlich haben sich die Verantwortlichen der Polizei genauso auch in seiner Zeitung geäußert und damit eben nicht beim besorgten Bürger angebiedert.

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