Postfaktisch (III): Philosophie

Wenn es im postfaktischen Zeitalter auf Wahrheit nicht mehr ankommt und der taktische Umgang mit ihr als vernünftig und akzeptabel gilt, dann sind gleich alle vier Disziplinen der Philosophie berührt: Seinslehre (Was ist?), Erkenntnistheorie (Was kann man erkennen?), Sprachphilosophie (Was kann man ausdrücken?) und Ethik (Was soll man tun?). Und zwar alle vier auf eine eher unangenehme Weise, weshalb Gilbert Dietrich in seinem Blogpost zum Postfaktischen nicht zu Unrecht beklagt:

„Es ist so, als fielen wir Jahrzehnte und Jahrhunderte hinter eine erreichte Aufklärung zurück. […] Es ist die Menschenverachtung, die sich hier durch eine Verachtung des eigenen Verstandes zeigt. Als Optimist, der gern ans Gute im Menschen glaubt, macht mich das wütend.“

Er vermutet das postmoderne Denken hinter dem populistischen Vulgärkonstruktivismus, für den Wahrheit eine Gefühlsfrage ist, weil in der postmodernen Informationsflut gar keine rationale Ordnung mehr herstellbar scheint. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen wies in der letzten Folge von „Sein und Streit“ zum gleichen Thema darauf hin, wie sehr auch die Philosophie von Moden bestimmt sei und sich spätestens seit Derrida die ganzen relativistischen -ismen in den Geisteswissenschaften als Standard dafür, die Welt zu betrachten, durchgesetzt hätten. Robert Misik bringt es in seinem NZZ-Artikel über „Mainstreammedien“ ganz ähnlich auf den Punkt: Wenn Wirklichkeit immer konstruiert ist, was unterscheidet dann Tatsachenbericht von Fiktion?

Dann können Millionen von Leuten sich denken: Trump „ist so authentisch, dass irgendwie alles wahr ist, was er sagt, selbst wenn nichts davon stimmt: Er hat keine Fakten, aber seine Story stimmt.“ (Gilbert Dietrich)

 

Technologie und Postmoderne

Dietrich wiederum stützt seinen Blogpost erheblich auf Peter Pomerantsevs Artikel „Why We’re Post-Fact“, der im Juli 2016 auf Granta erschien und von Dietrich ordnungsgemäß verlinkt wurde.

Pomerantsev macht das postfaktische Zeitalter bzw. die lustvolle Rebellion gegen die Fakten an jüngsten politischen Auftritten von Putin und Trump fest. Man könnte den türkischen Erdogan und den philipinischen Duterte hinzufügen und dürfte den italienischen Berlusconi nicht vergessen. Sie alle machen in höchsten Ämtern vor, dass es egal geworden ist, ob einer lügt oder die Wahrheit spricht.

Für Pomerantsev haben euch moderne Technologie und postmoderne Philosophie dorthin geführt. Das Internet vervielfacht Lügen und Hirngespinste schneller als sie überprüft oder gar korrigiert werden können. Nicht der Wahrheitsgehalt, sondern die Klickbarkeit einer Meldung zählt und geklickt wird, was zur bestehenden Meinung passt, die zu analysieren und bedienen das vollautomatische Geschäft der großen Datensammler ist.

Die Vielzahl von Filterblasen und Echokammern bietet jeder Spinnerei und jeder Radikalisierung homogene Schutzräume und kann zugleich nicht über den Zerfall der global vernetzten Öffentlichkeit hinwegtäuschen. Die neue Unübersichtlichkeit nährt nostalgische Sehnsüchte nach einer besseren weil einfacheren Vergangenheit, die von den rechtsradikalen wie islamistischen Erzählungen bedient werden.

Parallel zu diesen Gegennarrativen wird die etablierte Erzählung der Rationalität unterminiert. Das russische Staatsfernsehen, rechtspopulistische US-Sender wie FOX News und natürlich die unzähligen Youtube-Kanäle von KenFM, Compact und anderen Verschwörungstheoretikern behaupten, anderswo unterdrückte alternative Standpunkte zu präsentieren. Auf Russia Today darf ein General als Feindpropaganda abtun, was alle anderen und mitunter gar die eigenen Medien berichten (Russische Soldaten sind auf ukrainischem Boden aktiv. Ostukrainische Separatisten haben ein Flugzeug abgeschossen.). Bei FOX muss ein Klimaforscher mit einem Erdöl-Lobbyisten über den Klimawandel diskutieren, als wäre der bloß ein neuer Kinofilm und keine wissenschaftlich wieder und wieder bestätigte Tatsache. John Oliver hat auch mal ein schönes Stück über diese „False Balance“ gemacht – eine Strategie, die Urteile zu Meinungen herabwürdigt.

 

Die Verantwortung der Philosophie

Pomerantsev gibt aber auch der von den Universitäten in den allgemeinen Diskurs eingesickerten Postmoderne eine Mitverantwortung. Spätestens nach Kants Tod hat sich die Auffassung von der subjektiven Konstruktion von Wirklichkeit zunächst in den Wissenschaften ausgebreitet. Mit den Frühsozialisten und Marx wurde sie emanzipatorisch begriffen, um die Menschen gegen Manipulation und Prägung zu wappnen. Inzwischen ist sie in einen Zweifel an allem, nur nicht am eigenen Zweifel gekippt, in einen hyperaktiven Argwohn gegen alle Fakten als „Gemachtes“ und Daten als „Gegebenes“ zugunsten eines unerschütterlichen Vertrauens ins persönliche Bauchgefühl.

Einiges spricht für Pomerantsevs Verdacht gegen die Postmoderne, ohne dem konservativen Argwohn Recht zu geben, der schon immer gegen sie bestand und eigene Motive hat.

Adorno wendet sich in der „Negativen Dialektik“ und besonders im „Jargon der Eigentlichkeit“ polemisch gegen seine großen zeitgenössischen Denkerkonkurrenten, allen voran Heidegger und die Ritter-Schule. Sie beschwören Begriffe statt sie zu entwickeln, an die Stelle von Analyse und Synthese setzen sie auf suggestive Appelle an Intuition und Erfahrung, statt zu argumentieren raunen sie vage, auf den geistfeindlichen Rigor des Positivismus folgt mit ihnen die genauso geistfeindliche Entkleidung der Vernunft.

Adorno steht damit in der Tradition Kants, der sich in einer seiner ganz späten Schriften „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ distanziert. Namentlich geht es ihm um den Versuch einiger Zeitgenossen, den Wissensbegriff der „Ahnung“ als Gegenmodell zu Rationalismus und Empirismus zu etablieren. Zwischen jeder Zeile scheint die entnervte Frage des alten Königsbergers durch, wozu er eigentlich sein Leben auf die Kritiken verwandt habe, nur um diese Renaissance des Irrationalismus noch miterleben zu müssen.

 

Auch Philosophie hat Folgen

Heidegger hat gezeigt, in welche Tiefen eine Philosophie gelangen kann, wenn ihr Denker sich von allen Traditionen und Skrupeln befreit, aber auch, wie erbärmlich er vor dem Hintergrund eines verbrecherischen Geschehens dasteht, zu dem eine Philosophie, die den Namen verdient, „sich verhalten“ muss und das nur auf eine Weise kann. Spätestens nach Auschwitz und Hiroshima dürfte sich kein Wissenschaftler, auch keine Philosophin mehr damit herausreden können, doch „nur“ zu forschen.

Die anti-irrationalistischen Polemiken Adornos und Kants treffen auch die Phänomenologien Theodor Lessings und Wilhelm Schapps, die das gesamte Inventar der Philosophie ignorieren, das wissenschaftlich-rationale Weltbild verwerfen und dem Relativismus Tür und Tor öffnen. Aber man täte ihnen Unrecht, ihr Denken als protofaschistischen Quatsch zu verwerfen: In seiner Totalität ist es falsch, doch es durchdringt einen Aspekt des Menschseins, den der Positivismus ebenso wenig zu fassen vermag wie Adorno und Kant es tun: Schapps Geschichtenphilosophie erschummelt sich ihre Plausibilität nicht durch ihre vagen Begriffe, sondern diese sind der Sache in ihrer Vagheit angemessen, die wiederum einen großen Teil der menschlich-alltäglichen Erkenntnisweise ausmacht, den als auszutreibendes Gespinne abzutun den Menschen im Ganzen verfehlen würde. Adorno und Kant geben der Philosophie normativ ein Ideal vor, ohne das es nicht geht (bzw. sehr böse ausgeht), und Heidegger und Schapp füllen die deskriptiven Lehrstellen, die trotz oder gerade wegen des ganzen Neurozirkus und der Appelle an die Vernunft bestehen. Der Mensch soll rational sein und er ist irrational.

 

Sein und Sollen in der Sprachphilosophie

Schapp, Heidegger und viele andere haben mit guten Gründen auf den jahrtausendelangen Irrtum der Sprachphilosophie hingewiesen, dem Aussagesatz epistemologischen Vorrang einzuräumen und das Subjekt als reine Vernunft anzunehmen. Was normativ wünschenswert ist, ergibt wirklichkeitsfremde Ausgangspunkte des Denkens. Umgekehrt darf nicht der naturalistische Fehlschluss begangen werden, der die Postmoderne auszeichnet: Der Geist ist nicht Herr im eigenen Haus, das Subjekt ist in seinem Denken und Tun auf unüberschaubare Weise determiniert und in der Regel nicht einmal ein Subjekt. („Die meisten Menschen haben schon zwei Mal gelogen, wenn sie ‚Ich denke, dass…‘ sagen.“) Dieses Sein darf aber nicht zum Sollen erklärt werden und jedes humanistische Ideal als Träumerei verächtlich machen.

Man kann Aussagen und sogar Urteile als Geschichten im Sinne Schapps oder als Sprechakte betrachten und damit unter Gesichtspunkten, die über Wahrheit und Falschheit hinausgehen. Es gibt aber keinen Grund, dabei normativ zu werden, im Gegenteil: Angesichts der verheerenden Folgen für die Diskursfähigkeit des Menschen verbietet sich das. Mit dem Vorbild Heidegger unbeschwert von moralischer Umsicht denken zu wollen ist genauso verwerflich wie das Argument einer Gentechnikern, ihre Forschung könnte jenseits von Gut und Böse schon viel weiter sein.

 

Neue Aufklärung

Nun ist es längst zu spät, der Geist ist aus der Flasche, die Zahnpasta geht nicht mehr zurück in die Tube. Der Rückfall in voraufklärerische Zeiten, die von Autoritarismus, Aberglauben und Massenhysterien geprägt waren, hat sich auf hohem Niveau vollzogen, immerhin, und auch die erforderliche neue Aufklärung wird es tun. Also macht euch an die Arbeit, stets eingedenk der Tatsache, auf den letzten Metern wie der alte Kant zu bemerken, wie das mühevoll Überwundene plötzlich wieder aufholt…

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