Postfaktisch (II): Medien und Publikum

Mal angenommen, ihr lebt wirklich in diesem postfaktischen Zeitalter, in dem es üblich ist, mit der Wahrheit taktisch-kreativ umzugehen: Es muss nicht gleich die Lüge sein, aber einige Dinge wegzulassen, andere zu über- oder untertreiben sowie sich Gedanken darüber zu machen, in welchen Kontext sie eingebettet werden, das ist doch normal, oder? Das bedeutet nichts anderes als Geschichten zu erzählen, und die können, anders als die Wahrheit, erfolgreich sein oder scheitern.

Das Erfolgsgeheimnis des Rechtspopulismus besteht darin, eine politische Erzählung der Art zu verkaufen, wie du sie im aktuellen Lichtwolf in Anlehnung an Schapps Geschichtenphilosophie beschreibst. Die Tribun-Erzählung „Ihr seid das Volk und ich kämpfe für euch gegen das verlogene Establishment!“ kommt so gut an, dass die Wahrheit ihr nichts anhaben kann, weil diejenigen, denen erzählt wird, glauben wollen. Von Seiten der etablierten Politik kommt entweder gar keine integrierende Erzählung mehr – oder eine der Wahrheit sehr nahe und darum ziemlich rationale, langweilige und komplizierte. Einfacher und emotionaler sind die von ganz links bis ganz rechts verbreiteten Narrative von „im Mainstream unterdrückten Wahrheiten“, womit sich Robert Misik kürzlich in der NZZ beschäftigte.

 

Medien als Massenerzähler

Die Medien kommen in Schapps Geschichtenphänomenologie nicht vor, was kaum mit der Zeitgenossenschaft des Verfassers zu begründen ist: Als Schapp in den 1950er und 60er Jahren zur Philosophie zurückkehrte, waren Zeitungen, Zeitschriften und Radio längst etabliert, das Fernsehen bereits als nächstes Massenmedium absehbar. Diese Fehlstelle ist umso erstaunlicher, als die Mitverstrickung anderer in eine Geschichte durch das Erzählen der Geschichte eines der Hauptthemen von Schapps Phänomenologie ist.

Medien sind seit Erfindung des Buchdrucks Massenerzähler: Sie verbreiten nicht einfach Geschichten, sondern sie erzählen sie einem großen Publikum, das auf einheitliche Weise mitverstrickt wird. (Während europäische Medien nach „Reportagen“ suchen, wissen Journalisten im Englischen eine „story“ zu bringen.)

Es macht einen nicht gleich zum Verschwörungstheoretiker, wenn man die Frage nach der Konstruktion einer medial vermittelten Wirklichkeit stellt:

„Hat ein Ereignis, über das berichtet wird, überhaupt stattgefunden? Wenn es stattgefunden hat, hat es so stattgefunden, wie es geschildert wird? Hat es, wenn man aus anderer Perspektive als der Berichterstatter blickt, vielleicht anders stattgefunden? Oder hat es in der medialen Welt, in der ein Ereignis erst durch mediale Aufbereitung zum Ereignis wird, gar bloss stattgefunden, weil darüber berichtet wurde?“ (Misik)

Für Schapp spielen diese Fragen keine Rolle: Wirklichkeit ist das Gebilde aller Geschichten, in die du verstrickt (worden) bist. Betrug funktioniert ja nur, weil eine zur Täuschung erzählte Geschichte genauso „wirklich“ im schopenhauerschen Sinne ist wie die „reine Wahrheit“, die oft nur die Erzählung einer Ent-Täuschung ist.

Eure heutige Wirklichkeit besteht – anders als zu Schapps Zeiten – überwiegend aus medial vermittelten Inhalten. Die Menschen nutzen Medien nicht, sie leben in ihnen, schreibt Misik – und Hegel würde warnen: Das Unvermittelte ist das am meisten Vermittelte.

 

Balkanisierung und Überforderung

Der Zufall der Begegnungen, der die betrügerische Mitverstrickung erschwert, spielt eine immer geringere Rolle bei der Konstitution der Wirklichkeit, während das einheitlich verstrickte Massenpublikum in Filterblasen und Echokammern zerfällt. In ihnen flottieren die immer gleichen Geschichten, die eine Wirklichkeit ergeben, die immer weniger Kongruenz mit der anderer Filterblasen und Echokammern aufweist. Diese Balkanisierung der Diskurse wird zusammengehalten durch das Narrativ der „unterdrückten Wahrheiten“: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk warnt nicht deshalb nicht vor Chemtrails und Morgellons, weil das Hirngespinste sind, sondern weil er Teil der Verschwörung ist. Er berichtet, anders als Politcally Incorrect, nicht rund um die Uhr von „verbrecherischen Scheinasylanten“ – nicht, weil die eine solche Minderheit in der Minderheit sind, dass ihnen hinreichend Aufmerksamkeit durch Sicherheitsorgane zukommt, sondern weil kein Widerstand gegen die groß angelegte „Umvolkung“ aufkommen soll.

Die mediale Unübersichtlichkeit stellt eine ziemliche Herausforderung da. Manche sind damit überfordert, sich Kriterien dafür zu suchen, wann ein Medium als seriös gelten kann. Wenn es nur um Vertrauen und nicht um die Wahrheit geht, dann ist alles erlaubt, so die einen Überforderten und die anderen wiederum steigen komplett aus.

 

Konkretes Beispiel

Vor einem Weilchen wurde hier in der Gegend wieder ein geschächtetes Schaf gefunden. Schon als die Schäfer im Winter 2015 ihre Herden vom Deich holten, munkelte man, das geschähe aus Furcht vor den „Schwatten“ in den nahegelegenen Notunterkünften. Diese Erzählung blieb einfach besser haften als die langweilige Erzählung, dass die Schäfer ihre Tiere in diesem wie in jedem Winter in die Ställe bringen. Auf solch fruchtbaren Boden fielen dann auch die Berichte über wilde Schächtungen und lösten in Facebooks Regionalgruppen einhellige Empörung aus. Dass die Polizei zur Besänftigung des Volkszorns nicht sofort irgendwelche Muslime aufgriff und verurteilte, wurde manchem zum Anlass für die Erzählung vom tatenlosen Staat, in dem Flüchtlinge munter Frauen begrabschen und Schafe massakrieren dürfen.

In einer solchen Facebook-Diskussion fand sich ein Beitrag, der das postfaktische Zeitalter stupend auf den Punkt bringt:

Postfaktische Diskussion: „Es ist egal, welches Vokabular ich benutze, es ist egal, was du sagst, es ist egal, was ich sage: Ich habe Erfahrungen gemacht und darum Recht!“
Postfaktische Diskussion: „Es ist egal, welches Vokabular ich benutze, es ist egal, was du sagst, es ist egal, was ich sage: Ich habe Erfahrungen gemacht und darum Recht!“

Die Kombination aus dem Beharren auf halbverstandene Meinungsfreiheit und Drohungen mit dem Rechtsweg ist kindisch, aber nicht die Hauptsache. Darauf, nicht wählen zu gehen, ist mancher heutzutage ja schon fast so stolz wie darauf, in Mathe immer eine 5 gehabt zu haben. (Auch wenn diese Koketterie vielleicht eher ein Hilferuf ist.) Nein, so richtig aus dem Herzen des postfaktischen Publikums spricht, wer in einer öffentlichen Diskussion bekennt, sich „nirgends zu informieren“, und dabei von Empfinden, Tatsachen, Meinung und Realität zu sprechen, als seien sie dasselbe.

 

„Menschen seines Typus vereinigen die Neigung, sich […] ins Rechte zu setzen, mit der Angst, ihre Reflexion zu reflektieren, als glaubten sie sich selber nicht ganz.“

So schreibt Adorno im „Jargon der Eigentlichkeit“ und gibt damit das Stichwort dafür, welchen Anteil die Philosophie an diesem postfaktischen Zeitalter hat. Das soll aber erst morgen Thema sein.

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