„narrativ heimatlos“

Im kommenden Lichtwolf greifst du die hier (und dort) begonnenen Vorarbeiten zu Mythos und Geschichte(n) auf – und die Beschäftigung mit Erzählungen und Narrativen scheint wohl drauf und dran, das nächste große Ding in Soziologie und Politikwissenschaft zu werden. (Grund genug, es schnell mit der Finalität abzuschließen, die der Philosophie eigen – aber eben nicht schnell zu haben – ist.)

Anlass ist ein Deutschlandfunk-Gespräch vom 11.09.2016 mit dem Soziologen Armin Nassehi, das einiges von dem vorwegnimmt, was du im Lichtwolf geschrieben hast, aber erst ab dem 20. September für eine handvoll Leute zu lesen ist.

30- bis 59-Jährige Deutsche blicken laut einer Allensbach-Studie mit Skepsis und Angst in die Zukunft, obwohl es in den allermeisten Fällen dazu gar keinen Grund gibt – im Gegenteil: Den meisten ging es nie so gut wie heute. Nassehi ist vorsichtig und spricht eher von „gelingender Angstkommunikation“ (z.B. seitens der Rechtspopulisten von AfD und CSU). Sie betrifft vor allem Dinge, die weder politisch noch persönlich zu steuern sind und darum abstrakt für einen Kontrollverlust stehen.

Man möchte auf Epiktet verweisen, der sein „Handbüchlein der stoischen Moral“ mit folgender Auseinandersetzung eröffnet:

„Einige Dinge sind in unserer Gewalt, andere nicht. In unserer Gewalt sind: Meinung, Trieb, Begierde, Widerwille: kurz: Alles, was unser eigenes Werk ist. – Nicht in unserer Gewalt sind: Leib, Vermögen, Ansehen, Ämter, kurz: Alles, was nicht unser eigenes Werk ist.“

Augenscheinlich ist die Angst der Mittelschicht vor Abstieg und Kontrollverlust berechtigt, weil es ihr – im Gegensatz zum lustigen Privatdenker, der in den neun Jahren seit seinem Magister eingedenk des memento mori nie über den Lebensstil eines kleinen Bettelstudenten hinausging – zu gut geht und sie viel zu verlieren hat.

Andererseits sind diese Leute mit sich und ihren persönlichen Aussichten ganz zufrieden – es sei jedem „besorgten Bürger“ geraten, einfach mal die SUVs und Jeeps zu zählen, die die Straßen der viertgrößten Wirtschaftsnation befahren, oder die Arbeitslosenquote zu begucken oder die Steuereinnahmen, oderoderoder.

 

Doch es spricht ja einiges dagegen, mit konkreten, objektiven und komplizierten Hinweisen noch irgendwas in Otto Normalbürgers Oberstübchen reißen zu können. Vielmehr leben wir im „Age of Trumpiness“ und da muss nämliches Oberstübchen erstmal angekiekt werden, wie es nun einmal ist.

Menschen sind „in Erbgeschichten, in Erzählungen verstrickte Wesen“, sagt DLF-Redakteur Michael Köhler ganz recht, ohne Wilhelm Schapp zu nennen, und Nassehi ergänzt: auch Gesellschaften sind so, ohne dich zu nennen, aber wie auch – dein Essay mit diesem Wortlaut erscheint ja erst in einer Woche! (Fluch der Printmedien!)

Es kann einem also noch so gut gehen – wenn man das nicht in die Geschichte der Welt einordnen kann, kommt die Angst, oder wörtlich Nassehi: „Wenn es nicht gelingt, Geschichten über die Welt zu erzählen, die die Welt eindeutiger beschreiben, als sie eigentlich ist, dann entstehen diese Unsicherheiten.“

Die Nachkriegsgeneration hatte ihre Narrative von Wiederaufbau, Sicherheit und sozialem Aufstieg. Den etablierten Parteien gelingt es nicht (mehr), ihren „narrativ heimatlosen“ Milieus Geschichten zu erzählen, wo sie denn eigentlich leben – darum der Erfolg des Rechtspopulismus mit seinen diffusen Angsterzählungen.

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