Mythen, Politik und Terror (IV)

Politische Erzählungen ringen immer miteinander und der scheinbare Triumph der einen über die andere muss nicht in der Stärke jener begründet liegen, sondern kann der Schwäche dieser verschuldet sein. Vorgestern hast du am Beispiel der politischen Erzählung Deutschlands überlegt, wie ein Mythos von der Realität überholt wird und seine Glaubwürdigkeit verliert. Die Menschen, die aus einer politischen Erzählung herausfallen oder dies befürchten, schließen sich einer scheinbar vitaleren an, etwa der rechtsradikalen der AfD. Studien über die AfD-Wählerschaft legen das nahe, etwa wenn der Deutschlandfunk eine solche Wählerin zitiert mit:

„Ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet und geh mit 550 Euro Rente nach Hause. Da muss ich schon sagen, da kann doch etwas nicht stimmen.“

Ohne Zweifel gibt es genug solcher Menschen, die sich von der deutschen Fleiß-Erzählung ge-täuscht fühlen und ent-täuscht sind, sodass sie sich der Erzählung der AfD anschließen. Anders als die islamistische ruft die rechtsradikale Erzählung nicht zur Gewalt auf, verharmlost und entschuldigt sie „bloß“, weshalb sie keine Gewalttäter solchen Ausmaßes hervorbringt. Ausnahmen bestätigen die Regel und diese legen nahe, dass noch etwas hinzukommen muss, damit der Kampf der politischen Erzählungen blutig wird: eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Vor fünf Jahren brachte der Rechtsextremist Anders Behring Breivik in Norwegen 77 Menschen um – was dich damals ebenfalls zu einer vielteiligen Erwägung über den Terrorismus bewog; manche Themen scheinen sich einfach nicht zu erledigen…

Es gehört einiges dazu, um Dutzende von Menschen aus nächster Nähe zu erschießen oder sie absichtlich mit einem Lastwagen zu überfahren. Weder der Dachschaden noch die Erzählung, die durch ihn ins Oberstübchen rieselt, reicht alleine hin.

Wie verhält es sich also mit denen, die sich der islamistischen Erzählung anschließen – und mit dieser selbst? Offensichtlich ist sie mächtig genug, um einen jungen Menschen brutalste Grausamkeiten begehen zu lassen.

 

Hoffnung für die Verlierer

Hans Magnus Enzensberger stellte 2006 in seinem Essay „Schreckens Männer“ den modernen Terrorismus als Amoklauf der Verlierer dar – eine Interpretation, der auch Innenminister de Maizière folgt, wenn er die Gewalttat von Würzburg auf der Grenze zwischen Amoklauf und Terror ansiedelt.

Die FAZ wies im März 2016 auf Studien hin, die den überdurchschnittlich hohen Anteil an Ingenieuren und anderen technisch-naturwissenschaftlich ausgebildeten Männern unter Islamisten untersuchten. Sie kamen zu dem Schluss, dass es sich bei ihnen um die Verlierer der Bildungsexpansion handelt, die auch in der arabischen Welt stattfand: Das Versprechen „Aufstieg durch Bildung“ hat sich als Täuschung erwiesen. Die jungen Männer verlassen die Universität und finden trotz ihres Abschlusses keine Arbeit, können keine Familie gründen und fühlen sich als Versager, weil ihre Eltern all das ohne Hochschulabschluss geschafft haben.

Es wäre aber zu kurz gesprungen, in den Tätern nur Loser zu sehen, die weder Frau noch Job abgekriegt haben. Die neoliberale Erzählung lautet, jeder sei seines Glückes Schmied. Schicksalsschläge privatisiert sie als pP („persönliches Pech“) ebenso wie sie Scheitern mit Schuld verschränkt. Es handelt sich um eine Erzählung, die niemanden integriert, nicht einmal ihre Helden wie Donald Trump, Dieter Bohlen und Heidi Klum. Diese machen sie allerdings glaubwürdig („Jeder kann es schaffen, wenn er nur einen starken Willen hat!“) und es damit so schwer, sie als Täuschung abzutun. Die neoliberale Erzählung ist eine bleibende Demütigung für die Vielzahl der Verlierer und Gescheiterten, die ihr nicht einmal mit einer Gegenerzählung ganz entkommen können.

 

Terrorismus als Gegenerzählung

Schreckens Männer sind voll und ganz in der neoliberalen Erzählung, von der sie gedemütigt werden. Sie sind entschlossen zu sterben, um endlich einmal zu den Besten zu gehören, und kommen dabei nicht über die neoliberale Logik der Quantität hinaus: Breivik fragte sich, wie viele Menschen er töten müsse, damit das Manifest seines privaten Tempelrittertums möglichst viele Leser fände (und hatte damit skandalösen Erfolg); junge Männer, die an ihrer Schule einen erweiterten Suizid unternehmen (und fälschlicherweise „Amokläufer“ genannt werden), orientieren sich an Columbine und Aurora wie an einer zu übertreffenden Konkurrenz und messen sich in Rankings mit ihren Vorgängern Robert S. und Tim K.; ganz so, wie die IS-Miliz ihre Anhänger auffordert, einfach „so viele Ungläubige wie möglich zu töten“.

Die islamistische Propaganda löst die Radikalisierung nicht aus, sie bewirtschaftet nur das durch die narzisstische Persönlichkeitsstörung günstige Feld derer, die sich in der neoliberalen Erzählung gedemütigt fühlen und zu schwach für deren Dekonstruktion sind. Dazu verwendet sie all die Mytheme der neoliberalen Erzählung und wirbt mit Frauen, Autos, Geld und dem Paradies für den Kampf in Syrien wie andernorts für Kinofilme und Lifestyle-Produkte geworben wird. Nils Markwardt weist beim Freitag sehr richtig darauf hin:

Für psychisch kranke Gewalttäter scheint der Instant-Islamismus schlicht deshalb so attraktiv, weil er Marktführer bei den Vernichtungsfantasien ist.

Die islamistische Erzählung erklärt die Demütigung durch die neoliberale Erzählung (mit deren ästhetischen Codes) zu einem Beweis für die Verkommenheit der Gesellschaft, in der sie die scheinbar maßgebliche ist. Das ist umso leichter, wenn noch die rassistisch-islamophobe Erzählung hinzukommt, in der Nordafrikaner, Türken, Muslime allgemein sich auf den Kopf stellen können und trotzdem immer bedrohliche Fremdlinge im gesunden Volkskörper bleiben.

 

Die neoliberale Erzählung hat weder Integration noch Sinn zu bieten, aber sie ist nicht die europäische. Diese ist nämlich besser als ihr Ruf. Du kommst morgen darauf zurück.

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