Mythen, Politik und Terror (III)

Die gestrigen Ausführungen über den Mythos des Holocaust – wohlgemerkt „Mythos“ nicht im Sinne von „Fiktion“ – als (einen) Kern der europäischen und (den) Kern der israelischen Erzählung gaben ein plastisches Beispiel für eine politische Erzählung, die von Gegenerzählungen bedrängt wird. Diese müssen nicht falsch sein: Entscheidend ist – wie jeder, der schreibt, weiß – was weggelassen wird. Die palästinensische Erzählung ist genauso wenig Hirngespinst wie die israelische, setzt aber dermaßen andere Schwerpunkte (gelinde gesagt), dass es undenkbar erscheint, der Nahe Osten könne irgendwann eine gemeinsame Erzählung erreichen, in der Terroranschläge und Entführungen, Besatzung und Siedlungsbau gleichermaßen vorkommen.

Weiter nordwestlich ist die Konkurrenz zwischen der europäischen und den islamistischen und rechtsradikalen Erzählungen nach den jüngsten Anschlägen einmal mehr zutage getreten.

 

Verhalten und Verhältnisse

Die wichtigste Lehre der Präventionsarbeit lautet, dass es nutzlos ist, das Verhalten von radikalisierungsgefährdeten Personen zu bearbeiten, ohne dabei die Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Wie kann es passieren, dass junge Männer, die in europäischen Gesellschaften aufwuchsen (Nizza) oder Aufnahme gefunden (Würzburg) haben, anscheinend von einer Woche zur nächsten fanatische Mörder werden, die ihre Tat explizit als Mittel zum gegen diese Gesellschaften gerichteten Zweck begehen?

Das hat etwas mit Integration zu tun und die hat etwas mit einer politischen und das heißt integrierenden Erzählung zu tun. Die islamistischen Täter waren nicht integriert, genauer gesagt: sind nicht integriert worden. Der Frankotunesier von Nizza ist ebenso wenig in die Erzählung der Gesellschaft aufgenommen worden, in der er lebte, wie der afghanische Asylbewerber. Man kann das auch so formulieren: Beide haben sich nicht als Teil der Erzählung der sie umgebenden Gesellschaft empfunden.

 

Schwache Mythen

Das kann viele Gründe haben. Man kann sie suchen

  • bei denen, die erzählen;
  • bei denen, die glauben sollen;
  • und in dem, was erzählt wird.

Wem ist es zu verdenken, nichts mit einer Geschichte anfangen zu können, die nicht glaubwürdig ist?

Über den Mythos Frankreichs kannst du mangels Erfahrungen wenig mehr sagen als „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – und dass diese Trias den fleischgewordenen verschwiegenen Fußnoten der blutigen Kolonialgeschichte, also den in den Banlieus verschimmelnden Menschen wie Hohn vorkommen müssen, wenn die weiße, christliche, männliche Elite des Landes sie abspult.

Die deutsche Erzählung wandelt sich gerade ganz langsam zu der einer Einwanderungsgesellschaft. Der Widerstand dagegen ist groß, laut und übertritt mitunter die Grenze zur Gewalt. Er geht von Leuten aus, die fürchten oder schon einmal erlebt haben, aus einer gesellschaftlichen Erzählung herauszufallen. Geht man die Liste der Mytheme durch, finden sich einige, an die sich nicht nur AfD- und PEGIDA-Anhänger weniger mit Wehmut als Verbitterung erinnern:

  • Verbrechen lohnt sich nicht.
  • Hochmut/Gier wird durch Strafe zu Demut.
  • Fleiß/Demut/Bescheidenheit wird belohnt.
  • Maßlosigkeit wird mit Armut und Schande bestraft.

All das waren – gerade mal als deine Eltern so alt waren wie du – Elemente der Erzählung, mit der die westdeutsche Gesellschaft sich ihrer selbst versicherte, wenn sie frühmorgens zur Maloche aufbrach, jeden übrigen Pfennig für die Kinder und den verdienten Ruhestand auf die hohe Kante legte und eher lustvoll über eine Elite grummelte, die wie die Gebrüder Albrecht oder Helmut Schmidt genauso ihre Arbeit machte und dann zum Feierabendbier in den heimischen Bungalow zurückkehrte. Die ostdeutsche Erzählung vom besseren Deutschland wurde 1990 zugunsten der westdeutschen abgewickelt, die – obzwar ergänzt ums Kapitel der friedlichen Revolution – nur noch einige Jahre hielt: Norbert Blüm machte zwar schon 1986 Wahlkampf mit der sicheren Rente. Aber als er elf Jahre später seinen berühmten Satz wiederholte, löste das – laut Protokoll der Bundestagssitzung vom 11. Oktober 1997 – nur noch Gelächter in den Fraktionen der Oppositionsparteien aus.

Anscheinend hat die politische Erzählung Deutschlands anno 2016 an Integrationskraft eingebüßt – von der europäischen ganz zu schweigen. Sie ist schwach geworden.

 

Die politische Erzählung einer Gesellschaft hat weder Autor noch Erzähler oder Stimme – und wird doch erzählt. Sie ist eng verbunden mit der „Stimmung im Land“ – ob nun als deren Substrat oder Niederschlag. Sie wandelt die Stimmung und wandelt sich mit ihr. Dabei bleiben einige auf der Strecke, andere sind das Warten darauf, Teil der gesellschaftlichen Erzählung zu werden, irgendwann leid. Beide versuchen – durchweg erfolgreich – sich mit Gewalt in sie einzuschreiben.

Mit den schwachen und den vermeintlichen stärkeren Mythen und ihren politischen Erzählungen kannst du dich erst übermorgen befassen.

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