Laub, Leben und Tod

„Every grave is a plot of land
into which my eternal seeds do fall“
– „So spricht das Leben“, traditional

Die Herbststürme reißen das letzte Laub von den Bäumen und decken damit großzügig den Boden ab, in dem ihr eure Wege mit Steinplatten befestigt habt. Wenn du (oder ein anderer Mensch) es nicht zusammenfegen und auf den Kompost werfen würdest, bliebe es dort liegen. Das ist natürlich im doppelten Sinne; kein anderes Tier käme auf die Idee, den Rasen zu rechen und die Wege zu fegen.

Die Herbststürme reißen das letzte Laub von den Bäumen und decken damit großzügig den Boden ab, in dem ihr eure Wege mit Steinplatten befestigt habt.
Die Herbststürme reißen das letzte Laub von den Bäumen und decken damit großzügig den Boden ab, in dem ihr eure Wege mit Steinplatten befestigt habt.

Das Laub begänne, zu verwesen. Es saugt die Feuchtigkeit des Nebels und Regens auf. Mikroorganismen machen es sich darin gemütlich und werden von kleinen Insekten verspeist, die wiederum größeren Insekten Appetit machen. Alsbald kommen die Vögel und scharren in den Blättern nach ihnen. Sie durchlüften damit das Laub und beschleunigen seine Verwesung. (Was für ein schönes Wort für eine so schöne, so schreckliche Sache!) Noch haben die Vögel überall reife Früchte, an denen sie picken, und während sie im Laub nach einer Fleischbeilage suchen, kacken sie ihre weiße Kacke hinein. (Da kennen sie nichts: Die Apfelbäume sind von oben bis unten vollgeschissen; man sollte meinen, die Amseln kacken sich nicht in ihren Obstsalat, aber weit gefehlt.) Die Sträucher und Bäume ringsum haben die Vögel mit Früchten gelockt und ihnen Samen untergejubelt. Im Winter kommt der Frost über das Laub und zerlegt es auch auf Zellebene restlos.
Sobald er im Frühling vor den Sonnenstrahlen weicht, regt sich das Leben in der frischen Erde. Die Samen haben nur auf den Startschuss gewartet: Gut gedüngt von Vogelscheiße treiben sie in den durchkompostierten Überresten des letzten Sommers aus. Zunächst sind es nur die Pionierpflanzen – diejenigen, die möglichst früh möglichst rasch wachsen und für ihren Vorsprung gegenüber den anderen riskieren, von einem Frosteinbruch im April oder Mai dahingerafft zu werden. Doch das ist ohnehin ihr Schicksal: Sie blühen im Sommer, verteilen ihre Samen und sterben im Herbst ab. Abermals fällt das Laub und bedeckt nun schon nicht mehr Steinplatten, sondern eine feine Humusschicht, in der es vor Leben wimmelt, das sich auf den Winter gefasst macht. Das Spiel wiederholt sich, wieder und wieder, und du schätzt, dass es höchstens vier Jahreszyklen bräuchte, bis am Boden des Gartens alle Spuren des Menschen großzügig unter fruchtbarer Erde begraben sind.

Zur Beweisführung weniger geeignet, weil du die umgeknickte Weide abgesägt hast; aber dafür ist gut erkennbar, wie morsch das Innere bereits war.
Zur Beweisführung weniger geeignet, weil du die umgeknickte Weide abgesägt hast; aber dafür ist gut erkennbar, wie morsch das Innere bereits war.

In Städten würde es länger dauern, schon allein, weil es dort weniger Bäume gibt (und auch sonst weniger von allem). Doch der Prozess wäre der gleiche, wie du ihn auch an den Bäumen beobachtest, die zwar leichter zu zerlegen sind als ein Hochhaus, aber auch deutlich schwerer als das bloße Laub.
Jedem Herbststurm fallen auch einige Weiden zum Opfer. Die Weide ist eine Pionierpflanze: Sie ist genügsam und wächst so schnell, dass du ihr dabei zusehen kannst. Wenn du nicht aufpasst und eine Weidenrute auf dem feuchten Rasen liegen lässt, dauert es nur wenige Tage, bis das Vieh dort austreibt und wieder zum Baum werden will. Doch wie bei Sternen und Stars gilt auch hier: Wer doppelt so hell leuchtet, strahlt nur halb so lange. Auch Bäume haben eine Lebenserwartung, einigen werden hunderte von Jahren alt (in deinem Heimatdorf steht eine Rotbuche, deren erster Trieb aus der Erde kam, als Napoleons Truppen aus Ostfriesland abzogen und der Wiener Kongress tagte), andere – wie die Weide oder Kurt Cobain – nur vielleicht 27. In dieser relativ kurzen Zeit verausgaben sie sich zum Nutzen der Um- und Nachwelt. Die Weide treibt ihre Wurzeln weit durch den Boden und befestigt ihn. Sehr schnell ruft sie den Weidenwickler auf den Plan, ein garnelenartiger Schmetterling, der sich in die Weide hineinbohrt, um darin seine Eier zu legen. In diesen Gängen suchen alsbald auch Kellerasseln und Ohrenkneifer Obdach. Sie leben dort und das heißt: Sie fressen, scheiden aus, gebären und sterben. Mit der Verwesung von Kot und Kadavern zu fruchtbarer Erde wird nur noch mehr Leben in die Weide gelockt, die darüber faulig und morsch wird.

So sieht es am Ende aus: Der tote Baum beherbergt Insekten und Pilze, der wuchernde Efeu saugt aus der Rinde, was noch an Nährstoffen zu holen ist. Am Ende genügt die unsanfte Landung eines Fasans, um den Stumpf zerfallen zu lassen.
So sieht es am Ende aus: Der tote Baum beherbergt Insekten und Pilze, der wuchernde Efeu saugt aus der Rinde, was noch an Nährstoffen zu holen ist. Am Ende genügt die unsanfte Landung eines Fasans, um den Stumpf zerfallen zu lassen.

Wie alle Bäume, die von Stürmen gefällt werden, kann eine Weide Jahre oder gar Jahrzehnte daliegen: Verkeilt in andere Bäume oder über einen Felsen oder Erdwall geschlagen. Die Tiere kriegen sie schon klein: Vögel picken in der morschen Rinde nach den Insekten, die darin wohnen und sich von den Pilzen ernähren, die das tote Holz durchziehen. Je mehr die Rinde perforiert wird, desto feuchter wird das Holz. Größere Tiere richten sich unter dem Baumstamm ein Plätzchen ein; um sich vor dem Wetter zu schützen, vielleicht auch zum Schlafen oder gar um hier die Jungen aufzuziehen. Der Fuchs klettert auf den Baumstamm, um sich umzusehen, und irgendwann springt er im Schreck davon, weil der morsche Stamm unter ihm zusammenkracht. Nun dauert es nur noch einen Jahreszyklus, bis die fauligen Holz- und Rindensplitter unter Laub begraben sind.
Auf diese Weise werden alle großen Strukturen zerlegt, die Bäume und die Häuser – ob aus Holz oder Stein. Als du das Dach des Schuppens neu gedeckt hast, sind dir Heerscharen von Kellerasseln entgegengekommen. Sie mögen es warm, feucht und geschützt – und wenn sie sich ihr Räumchen erst ins Holz graben müssen, hält sie das nicht auf.
Sie sind geduldig: Im Sommer dehnen sich Beton und Steine aus, im Winter ziehen sie sich zusammen. So ist es selbst dort, wo niemals die Erde bebt oder ein Baum ins Haus fällt, nur eine Frage der Zeit, bis sich der erste Riss im Gemäuer zeigt. Die Asseln werden zur Stelle sein. Sie ziehen ein und leben und sterben, wie sie es in einer Weide tun. Jede Generation schleppt noch mehr Feuchtigkeit und Fruchtbarkeit hinein, der Riss wächst und wächst, bis die Wand einkracht. Dann kommen die großen Tiere: Den Fuchs zieht es ins Wohnzimmer, die Vögel brüten in Küchenschränken und Bücherregalen. Sie bringen Dreck herein, auch Zeug, um ihre Jungen zu nähren, und allesamt scheißen sie und liegen irgendwann tot da, während das Laub hereingeweht wird.

Die Nebenprodukte des Lebens schaffen absichtslos die Grundlage für neues Leben. Es dringt in jede Ritze, um dort zu sterben und noch mehr Leben anzulocken, das die Ritze stetig vergrößert und den Zerfall vorantreibt, während es den eigenen Zerfall so weit wie möglich aufzuschieben versucht.
Es steckt kein Prinzip dahinter, es ist ein Prinzip, das sich schön aufgehoben findet in dem Traditional „So spricht das Leben“, in dem Leben und Tod einander die guten Gründe darlegen, warum ihnen die Welt gehört.

 

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